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Die Quadratur des russischen Kreises an der Riviera

Die Quadratur des russischen Kreises an der Riviera

Die Ukraine, ganz Europa und die freie Welt stehen vor einem scheinbar unlösbaren Dilemma: Putin darf einerseits keinesfalls den Krieg gewinnen oder mit großen Eroberungen davonkommen; ein solcher Erfolg des größten Verbrechers des 21. Jahrhunderts wäre für ganz Europa katastrophal, wäre global die Vernichtung für unsere zentralen Werte Freiheit, Demokratie und Recht. Einerseits. Andererseits wäre es aber auch genauso fatal, wenn Putin sich eines Tages so in die Ecke gedrängt fühlen sollte, dass er den Atomknopf drückt. Dass er beschließt, so wie Hitler in den letzten Kriegsjahren zu handeln und angesichts des sicheren eigenen Untergangs voll Erbitterung, Hass und Frustration noch Millionen anderer Menschen mit in den Tod zu reißen.

Putin weiß zwar, dass er selbst persönlich keine Überlebenschance hat, wenn er als erster atomar losschlägt. Aber genauso weiß er, dass er angesichts der folgenschweren Schäden für die Russen keine Chance hat, Präsident Russlands zu bleiben. Gibt es noch eine Chance eines Ausbruchs aus diesem Dilemma, aus der dringend gesuchten Quadratur des russischen Kreises?

In vielen Staatskanzleien wird (hoffentlich) intensiv darüber nachgedacht. Diese Suche kann nur zwei kleine Chancen finden, wie die Ukraine-Katastrophe ohne globale Katastrophe enden könnte.

Ein Putsch gegen Putin?

Die erste Chance auf eine noch relativ gute Wendung besteht darin, dass es in Russland zu einem Putsch oder gar einer Revolution kommt. Die Russen sind nicht mehr so ultramontan, dass das wie in früheren Zeiten ganz auszuschließen ist, wo sie – mürrisch, aber doch – auch vor den übelsten Tyrannen gekuscht haben. Auf eine gewisse kritische Distanz eines Teils der Russen gegenüber Putin deuten jedenfalls etliche Indizien hin (die freilich noch keine echten Beweise sind):

  • Insbesondere in der städtischen Elite gibt es sehr viele, die todunglücklich sind über Putins Abenteuer; Zehntausende davon haben sich deshalb schon ins Ausland abgesetzt.
  • Am Anfang gab es auch viele Straßenproteste gegen den Angriffskrieg, die nur mit scharfer Repression zum Verstummen gebracht werden konnten; die Protesthaltung lodert dessen ungeachtet weiter in vielen Köpfen.
  • Ebenso ist der gleichzeitige Rücktritt von fünf Provinzgouverneuren ein erstaunliches, zumindest rätselhaftes Indiz.
  • Seltsam ist auch der Umstand, dass Wladimir Putin in seiner großen Ansprache zum 9. Mai absolut nichts Konkretes zu sagen gewusst hat, außer dem Westen neuerlich die Schuld an seinem Krieg zuzuschreiben (was außer ein paar Links- und Rechtsextremisten niemand glaubt).
  • Noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass die große Militärparade Moskaus zwar zackig abgelaufen ist und Massen marschierender Soldaten gezeigt hat. Jedoch haben die Russen im Krieg selber wider alle Erwartungen noch keineswegs die totale Luftüberlegenheit erzielt.
  • Zumindest große Fragezeichen lösen nun schon mehrfache Brände in russischen Munitions- und Waffenfabriken aus. Alles Zufall? Saboteure? Taten der viele russischen Staatsbürger mit ukrainischer Abstammung?
  • Viele, die sich in den letzten Jahren Russland im Glauben angenähert haben, dort würde eine konservative Alternative zu einer linksliberal verkommenden EU entstehen, wenden sich jetzt von dem Land ab. Selbst der französische Schauspielerstar Depardieu, dessen demonstrative  Übersiedlung nach Russland vor einigen Jahren dicke Schlagzeilen gemacht hat, kritisiert Putin nun offen und wirft ihm "verrückte, inakzeptable Entgleisungen" vor.  
  • Noch viel erklärungsbedürftiger ist die Tatsache, dass sich auch bei der Moskauer 9.Mai-Parade in der Luft entgegen ursprünglichen Ankündigungen überhaupt nichts abgespielt hat. Vorher war noch von Überflügen der Parade in der die Aggression symbolisierenden "Z"-Formation die Rede gewesen. Die offizielle Ausrede mit dem Wetter war aber erkennbar eine glatte Lüge. Denn die TV-Aufnahmen zeigten weitgehend blauen Himmel mit nur wenigen Wolken. Es gab also keinen Grund, die Machtdemonstration in der Luft abzusagen. Das lässt den Verdacht aufkommen: Wollte man da vielleicht alle Risiken ausschließen, dass ein Pilot im Sturzflug zum Angriff auf die konzentrierte polit-militärische Machtelite ansetzt? Das ist keine ganz absurde Überlegung der reinen Phantasie: So wurde vor rund 40 Jahren der ägyptische Präsident Sadat von Soldaten während einer Parade ermordet.
  • Putin zeigt auch sonst – wie viele Diktatoren in der Spätphase ihrer Macht – massiv paranoide Züge. Mit anderen Worten: Er ist ziemlich ängstlich. Äußeres Zeichen dafür ist der schier unendlich lange Tisch zwischen Putin und seinen Gästen, weil sich diese nicht einem russischen Corona-Test unterzogen haben. So skurril hat sonst weltweit niemand seine Ansteckungsängste gezeigt.

Das sind ein paar überaus spannende Puzzle-Steine, die aber noch kein zwingendes Bild ergeben.

Genauso wenig sollte man allzu sicher sein, dass die optimistischen Berichte mancher Geheimdienste stimmen. Ihnen zufolge sind die Russen durch den Krieg und durch das Fehlen von westlichen Ersatzteilen militärisch schon signifikant geschwächt.

Freilich ist diese Möglichkeit umgekehrt auch nicht ganz auszuschließen. Jedenfalls hat Russland seine Strategie total und angesichts einer für sie sehr ernüchternden Lage auf dem Schlachtfeld geändert: Seine Soldaten gehen jetzt überall direkten Gefechten auf dem Boden möglichst aus dem Weg und versuchen stattdessen, mit zahllosen Bomben, Artilleriegeschoßen und Raketen verbrannte Erde zu schaffen, bevor sich seine Panzer und Soldaten vielleicht irgendwo hineinwagen.

Putin hat erkennen müssen: Der Mut, die Motivation und das Engagement der russischen Soldaten sind die größten Schwachpunkte gegenüber den unglaublich tapferen, entschlossenen und cleveren ukrainischen Kämpfern. Ob auch die von den Ukrainern geäußerte Hoffnung zutrifft, dass den Russen langsam die Raketen ausgingen, ist hingegen noch mit großer Vorsicht zu bewerten.

Auch wenn man keine harten Beweise dafür in der Hand hat, scheint es jedenfalls wahrscheinlich, dass in vertraulichen Gesprächen unter russischen Offizieren und Gemeindienstlern wachsende Zweifel an Putin ob der großen Schäden geäußert werden, die Russland durch diesen Krieg völlig unnötigerweise erleidet. Das eröffnet zumindest die kleine Hoffnung, dass sich einige besonders mutige unter diesen Offizieren so wie einst im Juli 1944 einige Kollegen in der deutschen Wehrmacht zusammenfinden könnten, um dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Gewiss, das ist damals nicht gelungen. Gewiss, es ist alles andere als sicher, dass so denkende russische Offiziere jetzt besser an den paranoiden Putin herankommen, als einst die Stauffenbergs an Hitler. Aber jedenfalls sollte man auch im Westen diese kleine Chance beobachten.

Daher sollte man auch nachdenken, wie man diese Chance von außen unterstützen könnte. Das ginge am besten dadurch, dass man möglichst vielen Russen klarmacht, dass eventuelle Putschisten ein ungeschmälertes Russland behalten und regieren könnten, wenn auch ohne ukrainische Eroberungen.

Diese Putsch-Hoffnung ist die erste kleine Chance, dass das Ganze ohne allzu große Weiterungen zu Ende gehen könnte.

Die andere besteht darin, dass es den von Kiew immer wieder angesprochenen Erfolgen ukrainischer Gegenoffensiven gelingen könnte, die russischen Truppen außer Landes zu treiben. Das ist im Gegensatz zu den Februartagen nicht mehr ganz auszuschließen, wäre aber immer noch sehr überraschend.

Dazu braucht es jedenfalls viele der von den Ukrainern so dringend erbetenen schweren Waffen aus dem Westen und nicht bloß Drohnen, denn mit diesen allein kann man nur den russischen Vormarsch abbremsen, aber nie zurückwerfen. Diese schweren Waffen scheinen jetzt tatsächlich von vielen Seiten zu kommen. Das fürchtet Russland, weshalb es jetzt besonders intensiv Eisenbahnverbindungen und Brücken in der Ukraine bombardiert.

Sollte es der Ukraine aber wirklich gelingen, ihr ganzes Territorium zurückzuerobern, dann kann sich Putin auch in Russland keinesfalls mehr halten. Dann steht für ihn der persönliche eigene Untergang fest – politisch wie wohl auch physisch. Knapp bevor es so weit  ist, aber könnte für ihn die Versuchung übermächtig werden (wieder wie bei Hitler): "Wenn ich schon untergehen muss, soll die halbe Welt mit mir sterben."

Daher ist die von uns allen so ersehnte Niederlage der russischen Invasion nicht ohne Gefahr. Daher muss der Westen diese Möglichkeit auch psychologisch gut analysieren. Daher sollte Putin in einer solchen Situation ein klares Angebot gemacht werden: "Wenn du aufgibst, ohne weitere Schäden anzurichten, dann garantieren wir dir trotz der begangenen Verbrechen dein physisches Überleben." Da ein solches Überleben in Russland selbst kaum mehr möglich sein wird, sollte sich diese Garantie auch auf einen persönlichen Überlebens-Platz für Putin im Westen beziehen. Etwa auf eine Villa an der Riviera.

Frankreich hat diesbezüglich ja schon einschlägige Tradition: Etliche afrikanische Kriege und Diktaturen konnten dadurch abgekürzt werden, dass man Gewaltherrschern eine solche Villa anbot, wo sie in Ruhe leben können, aber keine Möglichkeit für politische Aktivitäten mehr haben.

Eine solche Strategie kann viel Leid reduzieren. Sie ist aber in den letzten Jahren nicht mehr angewendet worden. Denn international haben sich die Anhänger einer globalen Strafjustiz und einer vermeintlich immer durchsetzbaren Gerechtigkeit durchgesetzt: Kriegsverbrecher und eines Genozids oder Menschenrechtsverletzungen in großem Maßstab verdächtige Herrscher müssen jedenfalls vor einem internationalen Gericht landen, sobald man ihrer habhaft wird. Was im Fall Putins gewiss lebenslanges Gefängnis bedeutet.

Das entspricht zwar total einem natürlichen Gerechtigkeitsgefühl. Denn es wäre nur schwer erträglich, wenn die schlimmsten Verbrecher der Geschichte straflos davonkämen. Dennoch ist ein solches "Fiat iustitia, pereat mundus", ein "Gerechtigkeit muss durchgesetzt werden, selbst wenn die Welt darob untergeht", alles andere als klug oder menschlich.

Konkret: Eine lebenslange Bestrafung Putins wäre nach all dem, was er in den letzten drei Monaten angerichtet hat, mehr als gerecht. Dennoch sollte alles für die kleine Chance getan werden, dass er irgendwann doch freiwillig einlenkt. Das kann nur durch eine Garantie für Putin geschehen, sicher und in relativer Freiheit überleben zu können. Dann könnte man rein rechtsdogmatisch und auch rechtsphilosophisch sagen: Er hat durch Verzicht auf eine atomare Eskalation tätige Reue geübt. Was eine Tilgung der Strafe rechtfertigen würde.

Noch einmal sei betont: Das sind kleine Chancen. Aber sie sind die einzigen, die ich erkennen kann. Seriöse und verantwortungsbewusste Politik sollte sie umso ernsthafter ins Auge fassen und zumindest die letzten Türchen offen lassen, die die Welt vor noch Schlimmerem schützen. Aber eben ganz gewiss ohne dass man auch nur eine Sekunde sagt: Soll die Ukraine halt – zur Hälfte oder zur Gänze – dauerhaft auf ihre Freiheit und nationale Identität verzichten, damit wir Ruhe und der Aggressor seinen Willen hat.

Denn selbst wenn man so zynisch wäre, so zu denken, sollte man sich bewusst sein: Mit einem Sieg Putins über die Ukraine und deren Versklavung kehrt mit Garantie nicht Friede, Ordnung und das alte Leben in die restliche Welt zurück. Ganz im Gegenteil.