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Russland, Serbien und das Selbstbestimmungsrecht

Russland, Serbien und das Selbstbestimmungsrecht

Russland und Serbien sind zwei emotional ganz eng verbundene Nationen. Nicht nur Österreicher wissen das schmerzhaft seit dem ersten Weltkrieg, als die Russen an der Seite Serbiens in den Krieg eingetreten sind und dadurch die eskalierende Kettenreaktion der Bündnisse ausgelöst haben. Russland und Serbien sind dabei fast die einzigen slawisch sprechenden Nationen, bei denen der vor allem in Russland gerne posaunte Panslawismus jemals konkret geworden ist.

Sonst sind die Slawen oft schon sehr lange bitter verfeindet. Siehe Polen vs. Russen. Siehe Kroaten vs. Serben. Siehe Bulgaren vs. Mazedonier. Und siehe zumindest seit 2014 Ukrainer vs. Russen. Zugleich aber beruft sich Russland hinter seinen panslawistischen beziehungsweise panrussischen Aspirationen als Rechtfertigung seines Krieges gegen die Ukraine ständig auf die Parole des Selbstbestimmungsrechts.

Jedoch macht gerade die russisch-serbische Freundschaft klar: Es geht beiden Nationen weder um echte Selbstbestimmung noch um den mythischen Panslawismus, sondern um nackte imperialistische Eroberung. In Belgrad wie in Moskau glaubt man hartnäckig, dass der eigene Wert etwas mit der territorialen Größe zu tun habe.

Das mag ein kulturelles Spezifikum sein. Das mag eine Art Minderwertigkeitskomplex sein. Das mag mit der besonders nationalistischen Denkstruktur der orthodoxen Landeskirchen zu tun haben.

  • 1914 wollte sich Belgrad das (nach den Osmanen) von Österreich regierte Bosnien aneignen.
  • 2022 will sich Moskau die Ukraine oder zumindest große Stücke davon aneignen.
  • Und seit dessen Unabhängigkeit will sich Serbien das Kosovo wieder aneignen.

In den letzten beiden dieser drei Fälle beruht der imperialistische Anspruch darauf, dass die Gebiete früher zum selben Staat gehört haben. Aber würde dieser Umstand wirklich ein Recht auf Besitz beziehungsweise Eroberung schaffen, dann hätte etwa auch Österreich ein Recht auf Böhmen, Mähren und viele andere Gebiete. Dann dürfte Deutschland wieder Elsass-Lothringen erobern, und Großbritannien (sowie Frankreich) Nordamerika.

Alle drei zuvor genannten Eroberungs-Bestrebungen wurden und werden darüber hinaus mit dem Wunsch begründet, dass es angeblich um die Befreiung der dort lebenden Völker ginge. Dieser Anspruch wird seit der UNO-Charta auch als Recht, als Selbstbestimmungsrecht der Völker bezeichnet.

Nun: Gerade wenn man dieses Selbstbestimmungsrecht ethisch, grundrechtlich wie auch als Konfliktreduzierungsstrategie ernst nehmen will (und wir sollten es), dann kann es nicht nur um eine Behauptung gehen, sondern muss durch eine saubere, objektivierbare demokratische Entscheidung der gesamten Bevölkerung eines Gebietes erfolgen. Tatsächlich haben Volksabstimmungen schon mehrmals historische Konflikte entschärft. Ein Beispiel ist etwa die Kärntner Volksabstimmung nach dem ersten Weltkrieg und dem blutigen Abwehrkampf.

Völlig ungeeignete Referenden waren hingegen etwa jene Inszenierung, mit der Hitler im April 1938 zu fingieren versucht hat, dass die große Mehrheit der Österreicher für den Anschluss an sein Reich wäre. Diese Abstimmung hat absolut nichts mit freier Entscheidung zu tun gehabt. Ebensowenig das, was die Russen nach der Besetzung der Krim veranstaltet haben.

Denn bei einem sauberen Referendum muss

  • eine wirklich freie und geheime Abstimmung gesichert sein,
  • es muss die gleichberechtigte Teilnahme aller Bewohner eines Gebietes VOR irgendwelchen Vertreibungen stattfinden,
  • und es muss für alle Seiten die Möglichkeit zur Werbung gegeben sein.

Von Hitler bis Putin gab es nicht einmal einen Hauch einer Volksabstimmung, die diese Kriterien erfüllen würde.

Daher ist es eine rein hypothetische Frage, wie ein echtes Referendum ausgehen würde. Am ehesten könnte man sich noch in der Krim vorstellen, dass sich dort unter fairen Bedingungen die Mehrheit aller Einwohner aus der Zeit vor der russischen Annexion für Russland entscheiden würde. Noch ungewisser ist es in der seither umkämpften Ostukraine, wohin die Menschen bei einem freien Votum tendieren würden. Unter welcher Hauptstadt sie in einer friedlichen Zukunft leben wollen.

Es gibt aber keine seriösen Möglichkeiten herauszufinden, wie sich die Einstellung der Krim-Bewohner seit 2014 unter Eindruck der russischen Propaganda einerseits und der russischen Diktatur andererseits entwickelt hat. Tatsache ist, dass sich in der verbliebenen Ukraine auch die meisten der (zumindest früher) russisch sprechenden Menschen seit 2014 und noch mehr seit Februar 2022 von Russland abgewendet haben. Viele von ihnen haben deshalb sogar innerfamiliär zur ukrainischen Sprache gewechselt.

Wechseln wir zu den Objekten der serbischen Gier. Bei diesen ist es sogar völlig auszuschließen, dass sich die Mehrheit der Bewohner für Serbien ausspricht. In Bosnien gab es schon 1914 eine Mehrheit von islamischen Bosniaken und katholischen Kroaten, die mit Sicherheit nie für einen Wechsel von Wien zum orthodoxen Serbien gewesen wären. Noch eindeutiger ist das im heutigen Kosovo, das auch vor der – mit westlicher Hilfe – in den 90er Jahren erzielten Lostrennung von Serbien beziehungsweise Jugoslawien eine massive Mehrheit albanischer Einwohner gehabt hat.

Es kann ja nicht ernsthaft sein, dass Einwohnerverhältnisse des 14. Jahrhunderts (als die Türken große Teile des Balkan eroberten) heute noch entscheidend sein können, so sehr die türkischen Eroberungen auch ein Verbrechen waren.

Umso fassungsloser macht, dass selbst im Fall des Kosovo, also im allereindeutigsten der drei Fälle, die Serben keinesfalls bereit sind, dessen Unabhängigkeit hinzunehmen und auf das Verlangen einer Wiedereingliederung zu verzichten. Sie nehmen daher lieber in Kauf, dass sie nicht der EU samt deren für die Serben so notwendigen Geldsegen beitreten können, wenn sie das nur nach Aufgabe aller Kosovo-Ansprüche können.

Die Serben sind andererseits wegen ihrer chauvinistischen Verbohrtheit – und trotz der alten Verbundenheit – auch zunehmend empört über die Russen, die mit ihrem Vorgehen in der Ukraine die serbische Argumentationslinie zertrümmern: Denn Russland hat dort eindeutig mit militärischer Gewalt bestehende Staatsgrenzen zerstört. Die Russen haben in der Ukraine also genau das getan, was die Serben den Amerikanern vorwerfen, als sie dem Kosovo mit militärischen Mitteln zur Unabhängigkeit verholfen haben.

Wir lernen: Zumindest bei manchen Völkern ist die Kraft des chauvinistischen Imperialismus stärker als jede Vernunft, jedes Gerechtigkeitsempfinden, selbst stärker als der aus ähnlichen emotionalen Ecken kommende Panslawismus. Serbien wie Russland haben sich damit eindeutig selbst am meisten geschadet.

PS: Noch eine Parallele zwischen Russland und Serbien: 1914 wie 2022 sind die jeweiligen Geheimdienste da wie dort jene finstere Macht im Hintergrund, welche für ein Aufblühen des Chauvinismus des jeweiligen Staates sorgt, und deren Intrigen zur kriegerischen Katastrophe geführt haben. So ist heute in Moskau eindeutig, dass Putin sich bei seinem Weg zur Macht und seinem Festhalten an der Macht einzig auf die Geheimdienste gestützt hat und stützt (so fehlerhaft deren Informationen etwa über die Einstellung der Ukrainer auch gewesen sind). So ist es 1914 eindeutig der serbische Geheimdienst gewesen, dessen Agenten in Sarajevo den österreichischen Thronfolger ermordet haben.