
Massenmord: Hurra, wir haben die Täter gefunden!
Nun sind jene Medien unter Beschuss gekommen, die da im Umfeld des Grazer Massenmörders intensiv recherchieren und nach Zusammenhängen und Erklärungen suchen. Diese Recherchen haben inzwischen viele politisch korrekte Kritiker empört auf den Plan gerufen. Wie könne man nur! Das stelle ja die schuldlose Familie des Mörders und Selbstmörders ins Scheinwerferlicht! Vor allem könnten dadurch Nachfolgetäter motiviert werden! Diese Berichterstattung sei also eigentlich der wahre Täter, auf den man losgehen müsse! Doch hoppla. Da galoppiert wieder einmal das Gute in den Gutmenschen davon, ohne vorher den Verstand eingeschaltet zu haben.
In Wahrheit sind als einziger der Name der Familie und ihre Adresse streng geheim zu halten; und schon gar nicht darf es Fotos von ihnen geben.
- Denn erstens ist die Familie ja höchstwahrscheinlich nicht in irgendeiner Weise strafrechtlich schuldig (aber selbst dann wäre es völlig unzulässig, Adressen zu nennen).
- Denn zweitens ist sie durch die Tat ihres Sohnes und Bruders schon schwer genug bestraft.
- Denn drittens müsste man halb Österreich an den Pranger stellen, weil jemand angeblich lieblos gegenüber Angehörigen oder Schulkollegen gewesen ist (von denen dann aber die meisten deswegen nicht zum Massenmörder werden).
- Und viertens müsste das Haus der Familie ein Jahrzehnt lang rund um die Uhr unter Polizeischutz gegen den (verständlichen, aber trotzdem nicht zu tolerierenden) Rachedurst von Angehörigen der Opfer wie auch gegen selbsternannte Schützer von Recht und Ordnung gestellt werden.
Jedoch: Wer hat als erster ausgerechnet gegen diese Regel zumindest teilweise verstoßen? Ausgerechnet der ORF. Er nennt als erster den Ort bei Graz, eine recht überschaubare 8000-Einwohner-Gemeinde. Aber keine Sorge: Die Genossen vom Presserat werden natürlich gegen den ORF nicht vorgehen. Dabei wird in jenem Ort in den nächsten Wochen wohl der Teufel los sein.
In Hinblick auf alles andere aber haben die Medien eine legitime und wichtige Aufgabe, nach allen Details und Zusammenhängen zu forschen. Das gilt vor allem in Hinblick auf alle Aspekte rund um die zentrale und von niemandem bisher beantwortete Frage "Warum nur?". Diese Frage stellt sich wirklich ganz Österreich; und auch viele Menschen außerhalb der Republik tun das.
Es wäre nach all dem, was sich bei der österreichischen Staatsanwaltschaft in den letzten Jahren ereignet hat, doppelt absurd, würden die Journalisten die Hände in den Schoß legen und abwarten, ob sie ausgerechnet von dort oder von der (den Befehlen der Staatsanwälte unterliegenden) Polizei ehrliche und umfassende Antworten bekommen. Ganz abgesehen davon, dass beide ja eigentlich nur im Rahmen des Gesetzes agieren und reden dürfen (wovon die österreichischen Staatsanwälte bei parteipolitischem Interesse freilich mit Begeisterung abgehen).
Dann gibt es das Argument, dass die Medien deshalb primär schweigen sollen, als ausführlich über ein Verbrechen zu berichten, weil dadurch jemand anderer dadurch auf die Idee zu einem ähnlichen Verbrechen kommen könnte. Würde dieses Argument zutreffen, dann hieße das: Es darf über kein einziges Verbrechen, beziehungsweise dessen Motiv berichtet werden. Denn durch einen Bericht über eine Untat – von der Steuerhinterziehung bis zum Massenmord – könnte ja theoretisch immer jemand anderer erst auf die Idee gebracht werden, ein ähnliches Delikt zu begehen. Also dürfte nach dieser Logik über kein einziges Verbrechen berichtet werden.
Genau das war ja auch der Auftrag an die Medien in totalitären Systemen brauner wie roter Bauart: Sie sollten lediglich in nicht vermeidbaren Ausnahmefällen, wo etwa die Tat in aller Öffentlichkeit stattgefunden hat, oder bei politischem Interesse der Herrscher über Verbrechen berichten. Sonst musste in den Diktaturen immer alles als in Ordnung erscheinen. Dadurch ist bei schlichten Gemütern tatsächlich der gewünschte Eindruck entstanden: Unter den Nazis hätte es wenigstens "so etwas" nicht gegeben, damals hätten noch "Recht und Ordnung" geherrscht.
Bei der Mehrheit löst aber die Nichtberichterstattung einen ganz anderen Folgeprozess aus: den eines massiven Vertrauensverlustes der Bürger in die Medien. Ein solcher Vertrauensverlust durch großflächiges Verschweigen passiert auch in unserer Demokratie immer wieder. Wenn etwa der Migrationshintergrund eines Täters ständig von Polizei und Medien verschwiegen wird und wenn man immer nur dessen Alter und Geschlecht zu lesen bekommt, dann ist die Reaktion der Allermeisten völlig klar: Dann werden ganz automatisch alle Taten bestimmter Kategorien "den Ausländern" zugeschrieben, was zwar oft stimmt, aber bei Gott nicht immer.
Was sich auch hier inzwischen herausgestellt hat: Während offiziell immer betont wird, dass es sich um einen "österreichischen Staatsbürger" handelt – eine Formulierung, die sofort bei den meisten Bürgern Misstrauen auslöst –, berichtet das Internet-Magazin des bekannten Boulevard-Journalisten Richard Schmitt prompt, dass der Täter Migrationshintergrund hat (es gibt eine österreichische Mutter und einen inzwischen offenbar abhandengekommenen Vater aus einer ehemaligen – allerdings nicht islamischen – Sowjetrepublik). Wie viel klüger und vertrauenerweckender wäre es gewesen, hätte man das gleich ehrlich kommuniziert!
Vor allem aber ist eindeutig klar: Das Ego eines Menschen mit Depressionen oder Minderwertigkeitskomplexen, der sich ungerecht behandelt fühlt, wird tausendmal mehr als durch Zeitungsartikel über Motiv und Täter durch all das zu einer Nachfolgetat angestachelt, was nach dem Grazer Amoklauf in Österreich offiziell geschehen ist und rund um die Uhr berichtet wird.
Denn
o wenn man mit ein paar Schüssen die ganze Republik zum ergriffenen Stillstand bringen kann,
o wenn man damit das Land in eine offizielle Staatstrauer versetzen kann,
o wenn der Staatssender Sondersendungen voller Betroffenheit (wenn auch ohne Inhalte außer der ständigen Beteuerung der Wichtigkeit einer – in Wahrheit unmöglichen – "Prävention") ansetzt,
o wenn die halbe Bundesregierung sowie der Bundespräsident deswegen nach Graz düst,
o wenn zahllose Veranstaltungen abgesagt werden,
o wenn man an den Wiener Haltestellen kaum mehr über Abfahrtszeiten informiert wird, sondern über den eher rätselhaften Satz "Wir stehen zusammen mit Graz",
o wenn die größte Oppositionspartei ihren Parteitag, eigentlich ein Kernstück der Demokratie, absagt,
o wenn die Fußballnationalmannschaft nur mit Trauerschleife und Trauerminute antreten darf,
o wenn die Übertragung eines Fußballspiels ungefähr 30 Mal von der Frage direkt oder indirekt beherrscht wird, ob man das Spiel nicht eigentlich aus Erschütterung über die Tat absagen hätte müssen –
– wenn das alles passiert, dann wird es für depressive, sich minderwertig oder beleidigt fühlende Menschen wahnsinnig verführerisch, ebenfalls eine Tat ähnlicher Dimension zu setzen. Denn so können sie ja zumindest post mortem wichtig werden, sogar zu einer Berühmtheit aufsteigen und sich an irgendwelchen (wirklichen oder imaginierten) Feinden rächen.
Am schlimmsten sind aber die politischen Ergebnisse einer solchen Verschweigungs-Strategie:
- "Die Ausländer" geraten in ein noch viel schlechteres Licht, als den ohnedies problematischen Fakten entsprechen würde.
- Die klassischen Medien verlieren noch rapider an Lesern, Hörern oder Sehern, als das der Aufstieg der Internet-Kommunikation ohnedies bewirkt.
- Aus irgendwelchen Fingern gesogene oder aus irgendeinem nebensächlichen Detail entwickelte Verschwörungstheorien, die via Soziale Medien – oder früher via Mundpropaganda – kursieren, gewinnen massiv an Vertrauen und Glauben, wenn man weiß, dass man offiziell nicht die Wahrheit erfährt.
- Und am Ende ist auch das Vertrauen der Menschen in die Gesellschaft, in den Staat, in die Demokratie kaputt, wenn die Menschen spüren, dass sie angelogen werden, wenn sie auf zentrale Fragen keine ehrliche Antwort bekommen. Und zentral ist nun einmal bei einem Massenmord die Frage nach dem "Warum?".
Ob es das alles wert ist, was uns da die linke Political Correctness wieder einmal aus kurzsichtiger Regelungs- und Verbotswut beschert?
PS: Um auf ein internationales Beispiel zu verweisen: Die Ukraine hätte täglich noch weit mehr Anlass als jetzt Österreich, Fußballspiele abzusagen und das Land voll Trauer zum Stillstand zu bringen: Sie tut das jedoch alles nicht, trägt halt Spiele zur Not im Ausland aus. Sie will damit im nationalen Konsens stolzen Überlebenswillen zeigen: Wir lassen uns von einem Massenmörder nicht unterkriegen. Egal, aus welcher psychischen Störung heraus Wladimir Putin zu einem solchen geworden ist.