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Die Nato, der Muslimbruder und die gemeinsamen Werte

Die Nato, der Muslimbruder und die gemeinsamen Werte

Der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance hat am Beginn dieses Jahres bei einer großen Rede in München den Europäern kräftig und mit guten Argumenten die Leviten gelesen. Er hat ihnen eine ganze Reihe konkreter Verletzungen des Grundrechts der Meinungsfreiheit vorgeworfen und daraus die kritische Frage abgeleitet: Wie soll man ohne gemeinsame Wertebasis zu einer gegenseitigen Verteidigung bereit sein? So recht Vance mit seinen damaligen Vorwürfen auch hatte, so sehr ist umgekehrt den Vereinigten Staaten kritisch die Frage zu stellen: Wie halten sie es selber mit der gemeinsamen Wertebasis anderen Ländern gegenüber? Was für eine moralische Berechtigung hat die Beistandsverpflichtung des Artikels 5 im Nato-Vertrag, wenn man dadurch auch einer eindeutigen Diktatur gegenüber zu Beistand verpflichtet ist? Wie ernst zu nehmen sind die diesbezüglichen Sicherheitsgarantien dann noch?

Diese Fragen sind den Regierungen aller Nato-Staaten, aber vor allem den USA als Leitnation der Nato zu stellen. Diese Fragen müssten insbesondere auch die Bürger der USA selber stellen, die ja selbst – ob als Soldat oder Zivilist – unweigerlich zentraler Teil der nuklearen Garantie der USA für die anderen Nato-Mitglieder sind.

Bei diesen Fragen geht es um das Nato-Mitglied Türkei. Sie werden von Jahr zu Jahr aktueller, zuletzt geradezu von Woche zu Woche. Denn die Türkei hat sich in massivem Ausmaß zu einer klassischen Diktatur gewandelt. Diktator Erdogan lässt immer mehr Bürgermeister, Journalisten und Oppositionspolitiker verhaften. Das, was den nach Unabhängigkeit oder Autonomie strebenden Kurden schon seit Jahren angetan worden ist, passiert nun genauso allen anderen Türken, wenn sie sich nicht bedingungslos dem Diktat Erdogans unterwerfen.

Gleichzeitig hat Erdogan das Land mit einer strikten islamischen Ideologie durchzogen. Er hat diese über die türkische Religionsbehörde auch auf viele Auslandstürken zu übertragen vermocht. Diese Ideologie deckt sich mit den Intentionen der Muslimbrüder, bei deren Veranstaltungen er schon mehrfach führend mitgemacht hat.

Der Kern der Moslembrüder-Ideologie: Der Islam greift auf demokratischem Weg nach der Macht; in der Türkei tut er das durch Zurückdrängen der früher (seit Atatürk) dominierenden liberalen Laizisten, im Westen durch die angepeilte Eroberung der ethnischen Mehrheit für die zugewanderten Moslems. In jedem Fall ist das Ziel die Errichtung eines islamischen Staates, die sich danach demokratisch nicht mehr rückgängig machen lässt.

 In der Türkei hat Erdogan diese Ausrichtung durch einen rabiaten ethnischen Nationalismus ergänzt, der sich gegen Kurden, Griechen, Christen und unterschwellig auch Araber richtet. Es ist mehr als auffällig, dass der Extremismus und Terrorismus von Al-Kaida und "Islamischem Staat" in der Türkei viel weniger zum Problem geworden ist als in anderen islamischen oder gar westlichen Ländern. Ganz eindeutig agiert Erdogan gegen diese extremistischen Gruppen kaum – er hat sie zum Teil sogar unterstützt. Das war vor allem in jenen Zeiten eindeutig nachweisbar, als der "Islamische Staat" Teile Syriens und des Iraks unter seine Kontrolle und blutige Terrorherrschaft gebracht hatte.

Jedenfalls war die Türkei zuletzt auch der stärkste, ja einzige Unterstützer der syrischen Islamisten, denen in den letzten Monaten die Eroberung des ganzen Landes gelungen ist – zur Panik der dortigen Christen, Alewiten, Drusen und Kurden. Zwar scheinen die neuen Machthaber Syriens sich bisher relativ zivilisiert zu verhalten – aber viele meinen, dass sie das nur solange tun, bis sie ihre Herrschaft komplett gefestigt haben.

Erdogan hat gewissermaßen im Gegenzug schon seit etlichen Jahren die Beziehungen zu Israel dramatisch verschlechtert. Dabei waren diese beiden Länder früher geradezu befreundet gewesen – was sich sowohl durch die guten Beziehungen beider zu den USA als auch durch den anti-arabischen Antagonismus erklären hat lassen. Diese Beziehungen hatten der Türkei auch wirtschaftliche Vorteile gebracht.

Für die Nato wird jedenfalls das Problem Türkei immer größer, je aggressiver und imperialistischer Erdogan agitiert und je brutaler Erdogan die Reste der türkischen Demokratie auftritt. Auch wenn offiziell niemand darüber reden will, bedroht das Verhältnis zur Türkei die innere Kohärenz der Allianz. Auf der anderen Seite ist es auch für die Ukraine enorm wichtig, dass die Türkei nicht ganz ins Lager Russlands vertrieben wird. Die türkisch-russischen Beziehungen verbessern sich jedenfalls, seit der Syrien-Krieg zu Ende ist, wo beide noch in entgegengesetzten Lagern gestanden sind.

Gewiss gibt es in der Geschichte der Nato schon zwei Beispiele, wo man Länder ins Bündnis genommen, beziehungsweise in diesem gehalten hat, obwohl dort die Demokratie von einer autoritären Herrschaft unterbrochen worden ist.

Das eine Beispiel war Portugal schon bei der Gründung der Nato – dabei war das Land seit den 20er Jahren autoritär regiert – und das andere war der Verbleib Griechenlands in der Nato nach dem Putsch 1967.

Aber immerhin war Portugal im Zweiten Weltkrieg recht hilfreich für die Westmächte sowie auch für viele jüdische Flüchtlinge (wenn auch formal neutral) und unterschied sich dadurch von dem sehr Hitler-freundlichen Spanien, das daher auch erst nach dem Ende der Franco-Diktatur in die Nato aufgenommen worden ist. Immerhin haben Portugal und Griechenland nicht zuletzt unter dem Druck der Nato zur Demokratie zurückgefunden. Und immerhin hat sich auch in den autoritären Jahren keines der beiden Länder aggressiv nach außen verhalten.

Was hingegen die Türkei durchaus und zwar schon lange ist. Und das gleich mehrfach:

  1. Durch ihre fast regelmäßigen (allerdings zuletzt seltener gewordenen) Drohungen gegen Griechenland und dessen ägäische Inseln;
  2. durch die militärischen Eroberungen von Territorien in Syriens Norden;
  3. durch regelmäßige Beschießung der autonomen irakischen Kurden;
  4. durch Erpressung der EU mittels der je nach taktischem Bedarf gesteuerten Schleusung islamischer Flüchtlingsmassen aus Afghanistan und Syrien Richtung Westen (deren Reise in die Union derzeit von den Türken gegen viel Geld gestoppt worden ist);
  5. und durch die militärische Eroberung des Nordteils von Zypern, wo bis heute ein türkischer Pseudostaat existiert.

Das alles bedeutet jedenfalls einen gewaltigen qualitativen Unterschied zu Portugal und Griechenland. Das alles macht die türkische Nato-Mitgliedschaft zu einem noch größeren moralischen Problem für den Westen, als es die Sistierung der Demokratie in einem Mitgliedsstaat ohnedies ist. Dennoch wird die Türkei aber aus vier nicht ganz unverständlichen Gründen im Bündnis gehalten:

  • wegen ihrer strategischen Stellung am Eingang zum Schwarzen Meer;
  • als Gegengewicht zu Russland, mit dem es schon seit Jahrhunderten rivalisiert, was auch im Ukraine-Krieg eine gewisse Bedeutung hat;
  • weil die türkische Armee größer ist als die jedes einzelnen EU-Landes;
  • und weil man fürchtet, Ankara könne ohne Nato-Mitgliedschaft noch aggressiver gegen das Nato-Mitglied Griechenland werden, mit dem es seit über und vor allem seit der gegenseitigen Vertreibung von Griechen aus Kleinasien (wo die Griechen seit Jahrtausenden daheim waren) und von Türken aus Nordgriechenland (wo sie seit der osmanischen Eroberung des Balkans daheim waren) vor hundert Jahren ein nicht gerade von Liebe geprägtes Verhältnis hat.

Dazu kommt seit einiger Zeit vielleicht noch ein zusätzlicher Grund, den freilich niemand laut ausspricht: Insbesondere Deutschland fürchtet insgeheim, dass die ausgewanderten Türken ein Unruhepotenzial würden, wenn man die Türkei offiziell aus der Nato hinauswirft.

Mit den so oft beschworenen gemeinsamen Werten hat das alles freilich nichts mehr zu tun (und schon gar nichts mit dem, was ein Teil der EU neuerdings krankerweise unter "gemeinsamen Werten" versteht – nämlich mit der Schwulen- und Transideologie …).

Aber jedenfalls sehr viel mit Realpolitik.