
Peinlich und doof wie auch klug und mutig – oder: 30 zu 2
Mit den Vokabeln dieser Überzeile kann man die ORF-Sommergespräche am besten zusammenfassen, insbesondere nach der Runde mit Christian Stocker. Sowohl der positive wie auch der negative Teil dieser Bewertung gilt ebenso für den ORF wie auch für den ÖVP-Chef.
Gerade Stocker hat da viel von seinem staatsmännischen Image verloren, das er sich in den letzten Monaten und auch durch dieses Gespräch erworben hat. Gewiss, Fernsehen braucht Füllbilder. Und die gewähren ihnen viele Politiker nach Interviews, wenn sie sich etwa am Schreibtisch beim Aktenlesen filmen lassen. Aber das wirkt meistens wenigstens halbwegs echt. Bei Stocker hingegen haben die Einstiegs-Sequenzen wirklich nur noch peinlich und unlocker gewirkt. Und wenn Herbert Kickl, der beim nächsten Mal dran ist, punkten will, bräuchte er daher nur zu sagen: "Aber ich mach da nicht mit, ich bin ja kein Modell."
Noch doofer und peinlicher sind nur noch die Schauspieler, die ORF III dann jedes Mal am Ende als Diskussionsteilnehmer präsentiert. Sie können sich zwar zum Unterschied von Politikern vor Kameras bewegen, aber sobald sie den Mund in einer ernsthaften Debatte aufmachen, beweisen sie, dass sie keine Ahnung von dem haben, worüber sie reden.
Auf der positiven Seite ist dem ORF zugute zu halten, dass der Fragesteller der Sommergesprächsrunde in Summe deutlich besser war als all jene, die der Sender in den letzten Jahren versucht hat – auch wenn er offensichtlich die wirklichen und überraschenden Schwerpunkte der Aussagen Stockers nicht ganz begriffen hat. Denn gleich viermal hat Stocker Vorstöße deponiert, die für den sozialdemokratischen Koalitionspartner nur schwer zu akzeptieren sein dürften – so richtig und klug sie auch sind.
Auch in Hinblick auf Stocker sei aber das Kritische zuerst erwähnt: Die Formel "2 – 1 – 0", die er noch dazu ständig ins Spiel brachte, ist eine der allerdümmsten Erfindungen im einschlägig sehr reichen Politik-Sprech. Sie kann wohl nur aus der Hexenküche einer PR-Agentur kommen, auch wenn Stocker sonst nicht der Typ ist, der PR-Sprüche klopft. Denn:
- Zum einen sind solche scheinbaren Zauberformeln alles andere als menschennahe. Sie wirken immer künstlich. Sie klingen nach willkürlichem, ja kindischem Umgang mit schwierigen Problemen bloß um eines Zahlenspiels willen. Überdies haben wohl viele Zuschauer auch bei der fünften Wiederholung der Ziffernkombination nicht begriffen, was Stocker damit eigentlich genau meint.
- Zum anderen werden ihm jene, die das mit der Formel abgegebene Versprechen verstanden haben, mit absoluter Garantie nach einiger Zeit vorhalten, dass er sein Versprechen gebrochen hat. Denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass alle drei Werte oder auch nur zwei davon erreicht werden. Schon deshalb, weil eine österreichische Regierung oder ein Bundeskanzler sie nur minimal beeinflussen kann – außer durch eine neue Schuldenzunahme, die Stocker fatalerweise freilich nicht ausgeschlossen hat. Viel wichtiger sind EU, EZB, Sozialpartner, Gerichte und der Verlauf des Ukraine-Krieges. Daher wird es Stocker in zwei Jahren wohl hunderte Male zu hören bekommen, dass die Inflation doch nicht bei oder unter zwei Prozent zu liegen gekommen ist, dass das Wirtschaftswachstum doch nicht ein Prozent erreicht hat, und dass die Abschiebung aller kriminellen Migranten doch nicht gelungen ist.
Das erinnert bei allen intellektuellen Unterschieden ein wenig an seinen Vorgänger, der letztlich an einer einzigen Aussage gescheitert ist (nie mit Kickl), die ihm ein unfähiger PR-Mensch aufgeschrieben hatte.
Dabei war im Rest der Stocker-Aussagen viel Kluges und Mutiges dabei. Man muss freilich vor allem gespannt sein, ob sein roter Koalitionspartner die folgenden vier Punkte schluckt oder ob wir nicht Zeuge des Beginns eines neuen großen Koalitionsstreits geworden sind:
- Stocker will die Pensionserhöhungen (die in der Vergangenheit insbesondere unter Sebastian Kurz bei den kleineren Pensionen oft weit überhöht gewesen sind, obwohl es da oft bloß um eine Zweitpension geht) erstmals nur unter der Inflationsrate von 2,7 Prozent erhöhen; er scheint dabei sogar einen Wert von 2,0 Prozent anzusteuern.
- Stocker will die Sozialhilfe österreichweit auf niedrigem Niveau vereinheitlichen. Das ist eine offene Kampfansage an die Gemeinde Wien, die bisher immer sehr militant auf ihren viel freigiebigeren Auszahlungen bestanden hat, was ja mit den 9000 Euro monatlich für eine syrische Familie in Wien zu einem großen Skandal geführt hatte.
- Stocker kündigte auch ein "verfassungsgemäßes Kopftuchverbot" für Unter-14-Jährige an. Auch das wird ein extrem spannendes Koalitionsthema – und wird wohl eine diesbezügliche Verfassungsänderung brauchen (hat doch der linksgewendete Verfassungsgerichtshof ein solches Kopftuchverbot bei Kindern schon einmal als Eingriff in die Religionsfreiheit eingestuft, obwohl laut Verfassung Kinder in diesem Alter über ihre Religion noch gar nicht bestimmen können!).
- Und Stocker will die irregelaufene Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch eine "Authentische Interpretation" der Menschenrechtskonvention (EMRK) korrigieren und sieht sich dabei im Einklang mit 21 Nationen. Eine solche Authentische Interpretation ist juristisch gleichbedeutend mit einer Novellierung dieser EMRK, nur unter einem anderen Namen. Sie ist vor allem für die Gerichte bindend. Sie ist zwar der exakt richtige Weg, um die Migration einzufangen (er wird im Tagebuch schon seit zwei Jahren vorgeschlagen). Sie ist aber auch genau eine solche Änderung der EMRK, wie sie von Rotgrün bisher immer als so schrecklich wie die Einführung der Folter und Todesstrafe hingestellt worden ist.
Wenn Stocker aber alle vier Dinge schafft, dann wäre er über Nacht trotz seines fehlenden Charismas ein ganz großer Bundeskanzler. Dann wäre der FPÖ das Wasser abgegraben. Und die SPÖ wäre zu einer Partei der Vernunft anstelle ideologischer Wunschträume geworden.
Auch wenn das meiste am – eigentlich erwartbaren – Njet der SPÖ scheitern dürfte, hat Stocker schon jetzt einen großen Punktesieg über die Genossen erzielt. Das tat er durch die Ankündigung, dass im Bund Gebühren nur um maximal zwei Prozent erhöht werden sollen. Das ist ein krachender Gegensatz zur Ankündigung der Gemeinde Wien, sowohl die Straßenbahnfahrscheine wie auch die Parkgebühren um gewaltige 30 Prozent zu erhöhen.
Völlig unverständlich ist nur, dass Stocker diese skandalösen 30 Prozent selbst nicht erwähnt hat. Es ist freilich durchaus vorstellbar, dass er davon gar nichts erfahren hat, weil die 30-Prozent-Ankündigung durch das Rathaus erst ein paar Stunden vor seinem Sommergespräch erfolgt ist. Das würde freilich endgültig beweisen, dass Stocker ein katastrophales PR-Team hat, wenn dieses nicht einmal imstande ist, ihn auf solche wichtigen Nachrichten hinzuweisen.