
ÖVP-Krise: zwölf Anmerkungen zum Nachdenken
Alle drei Regierungsparteien stecken in einer frustrierenden Krise. Diese ist gewiss auch auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen, in der eine Regierung wenig zu punkten hat. Sie hängt aber noch mehr mit dem Zustand der drei Parteien selbst zusammen. Denn ÖVP wie SPÖ liegen bei den Umfragen weit unter dem ohnedies schon sehr frustrierenden Ergebnis des Wahltages im vergangenen September: die SPÖ um zwei Prozentpunkte, die ÖVP sogar um schockierende fünf Punkte. Und auch die Neos liegen nach ein paar Monaten mit einem leichten Auftrieb wieder nur auf dem Niveau jenes Wahlergebnisses.
Vor allem die ÖVP hat Grund, um über ein dramatisches Absacken nachzudenken. Sie ist binnen eines Jahres von 25 auf 20 Prozent gefallen. Dabei hatte sie in den letzten sechs Jahren schon ein Wahlergebnis von 38 Prozent und Umfrageergebnisse von 46 Prozent erzielt.
Worüber sollte sie daher nachdenken?
- Ganz eindeutig ist, dass die ÖVP immer dann gut abschneidet, wenn sie auch für eine Zusammenarbeit mit der FPÖ offen ist. Denn ihre Wähler sehen zu Recht eindeutig viel mehr inhaltliche Überschneidungspunkte zwischen Schwarz und Blau als zwischen Schwarz und Rot, vor allem, wenn an der SPÖ-Spitze zwei ideologische Träumer wie Andreas Babler und Markus Marterbauer stehen. Die ÖVP leidet zweifellos heute noch an den strategischen Fehlern des Karl Nehammer. Es kommt bei den Wählern immer schlecht an, wenn man die Zusammenarbeit mit einem anderen Politiker wie Herbert Kickl a priori ablehnt, wie es die ÖVP unter Nehammer getan hatte, selbst wenn dieser andere Politiker noch so schwierig ist. Herrscht doch an den Stammtischen die schlichte Devise vor: Die sollen arbeiten und nicht streiten. Daher sollte eine Absage an eine andere Partei jedenfalls nur an Inhalten scheitern (bei denen sich eventuell die Russlandliebe und der Impfhass der FPÖ tatsächlich zu unüberwindlichen Hindernissen akkumulieren könnten), niemals aber an Personen. Und schon gar nicht, wenn die Alternativen zu der zumindest vor der Wahl abgelehnten Person Babler und Marterbauer heißen. Dieser Kontrast macht die einstige Ablehnung noch heute negativ für die ÖVP wirksam.
- Der jüngste wirklich überraschende Erfolg der ÖVP in der Regierung ist ganz und gar nicht in die Öffentlichkeit durchgedrungen: Das ist die Tatsache, dass die beiden Migrationsbefürwortungsparteien Rot und Pink die Ankündigung von Bundeskanzler Christian Stocker ohne Widerstand hingenommen haben, in Europa mit etlichen Gleichgesinnten eine Änderung der Menschenrechtskonvention (sowohl inhaltlich wie auch in Hinblick auf die Judikatur) durch das Rechtsinstrument einer "Authentischen Interpretation" anzustreben. Wenn man seine spärlichen Erfolge aber nicht verkünden kann, dann gibt es logischerweise auch keine Belohnung dafür.
- Auffällig ist, dass sich die in einer ganz ähnlichen Situation steckende CDU (welche ebenfalls mit den Sozialdemokraten in einer Koalition steckt, welche ebenfalls mit einer Wirtschaftskrise fertig werden muss, welche ebenfalls Probleme mit einer sie rechts überholenden Partei hat) besser hält als die ÖVP. Die CDU hat zumindest bisher deutlich weniger Unterstützung in der Bevölkerung verloren als die ÖVP und liegt bei den meisten Umfragen noch knapp vor der AfD; und sie hat keine Wähler an die FDP verloren. Die CDU setzt zum Unterschied von der ÖVP etliche liberalkonservative Akzente, die zwar die linken Medien und den roten Koalitionspartner aufheulen lassen, die aber bei ihren Wählern ganz gut ankommen:
- CDU-Chef Friedrich Merz verlangte öffentlich eine Redimensionierung des Sozialstaates. Von ihm formulierte Sätze wie die folgenden waren seit langem hingegen nicht mehr aus ÖVP-Mund zu hören: "Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten." "Das wird schmerzhafte Entscheidungen bedeuten." "Das wird Einschnitte bedeuten." "So wie es jetzt ist, insbesondere im sogenannten Bürgergeld, kann es nicht bleiben und wird es auch nicht bleiben." "Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse."
- CDU-Bundestagspräsidentin Julia Klöckner weigerte sich demonstrativ, die Regenbogenfahne am Parlament anzubringen.
- CDU-Kulturminister Wolfram Weimer hat dem furchtbaren und von einem Großteil der Deutschen wie Österreicher abgelehnten Gendern den Kampf angesagt. Er hat seiner Behörde strikt die Verwendung der skurrilen Gendersonderzeichen untersagt.
- Die ÖVP erweckt seit Wolfgang Schüssel nicht mehr den Eindruck, eine ernsthafte Reform des Pensionssystems anzustreben. Selbst wenn sie die absolute Mehrheit hätte, würde sie wohl nichts am einzig langfristig wirklich wirksamen Schalter, nämlich dem Pensionsantrittsalter, etwas ändern. Dabei sind dessen explodierende Kosten der weitaus größte Problempunkt der österreichischen Staatsfinanzen. Das wissen inzwischen sehr viele Österreicher gerade aus der bürgerlichen Welt.
- Die ÖVP erweckt auch sonst nicht den Eindruck, dass sie eine potenzielle Reformpartei wäre, selbst wenn sie nicht durch einen roten Koalitionspartner zur Stagnation gezwungen wäre. Alle kantigen Ideen, die andere liberalkonservative Parteien in Europa aufs Tapet gebracht haben, wie die Einführung einer Dienstverpflichtung für Frauen oder die Verlängerung des Wehrdienstes werden von ihr gemieden wie das Weihwasser vom Teufel.
- ÖVP-Abgeordnete haben dieser Tage zusammen mit grünen, roten und pinken Kollegen eine lobenswerte Initiative zugunsten politischer Gefangener in Belarus unternommen. Nur Freiheitliche haben daran nicht teilgenommen. Wollten diese nicht (was trotz der Nähe der Partei zu Russland, der Schutzmacht des Belarus-Regimes, eher unwahrscheinlich ist)? Dann wäre das ein gewichtiger Punkt, welcher der FPÖ vorzuhalten ist. Oder hat man sie nicht eingeladen (was wahrscheinlicher ist)? Dann aber wäre das ein idiotisches Mitwirken der ÖVP an der linken Strategie, die Brandmauer nach Österreich zu importieren.
- In der aktuellen Mercosur-Debatte macht die ÖVP wieder einmal den Eindruck der Zerstrittenheit zwischen Wirtschafts- und Agrarflügel. In anderen EU-Ländern hat man es hingegen schon vorweg verstanden, diesen Konflikt zu entschärfen. Nämlich durch die Betonung der zusätzlich versprochenen EU-Gelder für die Bauern im Fall eines Abschlusses dieses Handelsabkommens. Diese Gelder sollen den Bauern die Angst vor der lateinamerikanischen Konkurrenz nehmen. Eine solche Vorweg-Entschärfung hätte freilich Leadership erfordert.
- Stocker hat angekündigt, sich auf europäischer Ebene für ein Ende des "Österreich-Aufschlags" einzusetzen, mit dem die internationale Lebensmittelindustrie ihre Produkte in Österreich teurer verkauft als etwa in Deutschland. Sollte die (dazu bisher schweigende) Industrie keine überzeugenden Begründungen dafür nennen können, dann müsste Stocker in der EU diesbezüglich aber viel energischer auftreten als bisher. Bis hin zu einer Veto-Drohung in anderen Fragen, wie sie ja auch andere Länder eingesetzt haben.
- Eine solche Veto-Drohung hätte Österreich und damit führend die ÖVP auch schon seit vielen Jahren gegen den EU-Zwang ausüben müssen, ein Viertel der österreichischen Gratis-Studienplätze für Studenten aus dem Ausland zur Verfügung zu stellen.
- In soziologischen Analysen zeigt sich international, dass der Erfolg der sogenannten Rechtspopulisten vor allem auf drei Gruppen fußt: Arbeiter, Männer, traditionelle Familien. Zwar waren die ersten beiden dieser drei zentralen Gruppen bisher eher sozialdemokratische Wähler. Aber zugleich haben die liberalkonservativen Christdemokraten ihre Mehrheit bei den Frauen nach links verloren. Und zumindest bei Kirchenfunktionären (nicht bei Kirchgehern und nicht bei Priestern) haben die Grünen erstaunliches Terrain gewonnen. An welche dieser großen Gruppen hat die ÖVP zuletzt klare kommunikative Signale gesandt? Diese müssten ja nichts kosten. So wissen die wenigsten Frauen, dass sich die ÖVP als einzige für das obligatorische Splitting von Pensionsansprüchen einsetzt, welches zweifellos die einzige sinnvolle Strategie zur Reduktion von Frauenaltersarmut wäre.
- Wenn man schon (aus populistischer Feigheit) an der in Wahrheit längst überholten Neutralität festhält, dann hätte Stocker diese bei seinen internationalen Auftritten als perfekte Lösung für die heutigen Probleme der Ukraine trommeln können. Mit drei zentralen Lösungspunkten: Die Ukraine erklärt sich militärisch für neutral, streicht den Nato-Beitritt als Wunschziel aus der Verfassung, während sich die Russen im Gegenzug aus der ganzen(!!) Ukraine zurückziehen. So wie sie es 1955 nach langen Verhandlungen aus Österreich getan haben. Nur auf diesem Weg ist in Wahrheit ein Kompromiss zu finden, mit dem beide Seiten leben können. Damit wäre Österreich auf der internationalen Landkarte erstmals wieder präsent – nicht als Wichtigmacher, sondern als Kommunikator eines konkreten Beispiels.
- Jedenfalls sollte man sich klarmachen: Die entscheidenden Überlebenschancen der ÖVP (wie auch der anderen beiden Regierungsparteien) liegen nicht darin, möglichst wenig zu streiten und den Wählern quasi als Einheitspartei gegenüberzutreten, sondern den eigenen Wählergruppen klarzumachen, warum man gerade diese eine Partei wählen soll, warum gerade deren Programm für Österreich und für die Wähler gut wäre. Dazu müsste es aber überhaupt einmal als eigenständiges und ernst genommenes Programm erkennbar werden.