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Wenn Erstgerichte untreu werden, so bleibt die Instanz doch treu

Wenn Erstgerichte untreu werden, so bleibt die Instanz doch treu

Nachdem das Auftreten der "Gertrude-Oma" bei der Wiederholung der Bundespräsidentenwahl 2016 dazu geführt hatte, Alexander van der Bellen deutlicher, als es zunächst schien, vor Norbert Hofer ins Ziel gehen zu lassen, probierte man es am Vorabend der letzten Nationalratswahl erneut: Die Anwesenheit einiger FPÖ-Politiker bei einem Begräbnis, bei dem das auch von der SS prominent verwendete Studentenlied "Wenn alle untreu wurden" gesungen wurde, sollte zu einem unglaublichen Skandal hochstilisiert werden – was am prognostizierten Wahlsieg der FPÖ allerdings nichts mehr änderte. Gegen die Berichterstattung einer Tageszeitung wurde von den betroffenen Politikern geklagt, und dies zunächst mit Erfolg: Die Tageszeitung hätte genauer recherchieren müssen, welche Liedversion tatsächlich gesungen worden war. In einem Fall wurde das gegen die Tageszeitung ergangene Urteil dieser Tage vom Oberlandesgericht Wien wieder aufgehoben – mit einer Begründung, die eine nähere Analyse verdient.

Das 1814 von Max von Schenkendorf verfasste Lied durchgängig als "die SS-Hymne" zu bezeichnen, ist juristisch zulässig. Dass die Urversion noch nicht das "heil´ge deutsche Reich" besang, ergibt hingegen nicht, dass mit diesen Worten "genau die Version der Nationalsozialisten" gesungen worden sei, denn auch ältere Versionen enthalten bereits diese Textvariante. Die unzutreffende Verwendung des Wörtchens "genau" wurde auch in einem (bislang noch nicht revidierten) Urteil gegen die Tageszeitung bestätigt. Die Erstgerichte bemerkten ferner, dass auf dem Begräbnis vier Strophen gesungen worden waren, wohingegen in der SS-Version des Liedes eine Strophe weggelassen worden war. Strittig war außerdem, ob das Lied bei dem Begräbnis unter seinem Titel ("Wenn alle untreu werden") oder als "Treuelied" angekündigt worden war – im Liedbuch der SS firmiert es nämlich schlicht als "Treuelied". Außerdem habe (nur?) die SS in der Liedzeile "Sie kehren zu der Quelle in Lieb und Reue hin" das Wort "Reue" durch "Treue" ersetzt.

Eine Zwischenbemerkung: Nachdem das Absingen eines NS-affinen Textes immer auch prompt ein Ermittlungsverfahren wegen NS-Wiederbetätigung nach sich ziehen wird, kann man mit Fug und Recht die Frage stellen, ob die Ankündigung als "Treuelied" oder das Weglassen einer Strophe oder auch nur die Wortfolge "in Lieb und Treue" tatsächlich die Grenze vom rechtlich Erlaubten zum Begehen eines Verbrechens überschreiten soll, welches NS-Wiederbetätigung aufgrund der Höhe der Strafdrohung in jedem Fall darstellt.

Doch ebenso wird man die Grauzone, die Max von Schenkendorfs Lied aufgrund seiner Bedeutung in der NS-Zeit seit 1945 umgibt, durch die Unterscheidung in eine "gute" und eine "böse" Liedversion nicht wegreden können – eine Unterscheidung, die buchstäblich nur in den Worten liegt, nachdem auch die SS in der von ihr verwendeten Version weder sich selbst noch Hitler noch das Hakenkreuz besingt. Auch der Passus vom "heiligen deutschen Reich" wird immer in der Grauzone verbleiben, über das heilige römische Reich deutscher Nation hinaus den NS-Staat möglicherweise mitgemeint zu haben, zumal dieser seinerseits qua "Drittes Reich" an die ältere Reichsidee anknüpft.

Soll schon das Besingen des "deutschen Reiches" ehrenrührig sein, müsste dies ebenso für die (sogar durch ein Landesgesetz vor Verunglimpfung geschützte) Tiroler Landeshymne gelten, deren dritte Strophe wie folgt lautet: "Doch als aus Kerkergittern im festen Mantua die treuen Waffenbrüder die Händ' er strecken sah, da rief er laut: Gott sei mit euch, mit dem verratnen Deutschen Reich, und mit dem Land Tirol."

An dieser Mehrdeutigkeit ändert auch das Wort "heilig" nichts: Der Hymnus "Deutschland, heiliges Wort" etwa ist ein Lied der Hitlerjugend, das aggressivere "O Deutschland hoch in Ehren, du heil´ges Land der Treu" hingegen älteren Datums.

Wer heutzutage "Wenn alle untreu werden" anstimmt, müsste sich ungeachtet der gesungenen Textvariante erklären, in welcher Bedeutung er dieses Lied verstanden wissen will, und dieser Erklärung müsste außerdem geglaubt werden. Mindestens dies letztere ist spätestens im politischen Kontext ein Ding der Unmöglichkeit, denn selbst, wenn der Erklärung, das Lied bloß als romantisches Studentenlied bleibender Verbundenheit gesungen zu haben, geglaubt wird, würde dies niemals zugegeben werden. Ungeachtet dessen bemerkt auch der Richter eines mit der Causa medienrechtlich befassten Erstgerichts, dass das Lied "Wenn alle untreu werden" nicht verboten ist.

Das Urteil ebendieses Erstgerichts wurde nunmehr vom Oberlandesgericht Wien vollumfänglich aufgehoben, wobei mir hierzu nur die Medienberichterstattung vorliegt: Mit Recht scheint sich das OLG Wien nicht auf die Haarspaltereien der von den Erstgerichten urgierten Textanalysen einzulassen, also ob etwa "in Lieb und Reue" oder "in Lieb und Treue" gesungen worden sei. Anstatt aber etwa zu bekräftigen, dass das Absingen dieses Liedes für sich alleine (ohne weitere, belastbare Indizien, hierdurch der SS gehuldigt zu haben) erlaubt sei und daher das bloße Anwesendsein bei einem Begräbnis, bei welchem dieses Lied gesungen wird, umso weniger in einen NS-Bezug setze, geht das OLG Wien auf die inhaltliche Dimension dieses Liedes überhaupt nicht ein.

Der einzige rechtsrelevante Vorwurf, der bleibe, sei derjenige, das Begräbnis trotz des Liedes nicht verlassen zu haben. Über den Inhalt des Liedes als einen verwerflichen, der ein Verlassen des Begräbnisses grundsätzlich gebiete, scheint hiermit implizit entschieden, geht es doch im Folgenden nur noch um die Form eines Begräbnisses. Hierzu argumentiert das OLG Wien nun, dass es einen Affront darstelle, ein Begräbnis während der laufenden Zeremonie zu verlassen und dass auch jeder Leser der beklagten Tageszeitung um diese Zwickmühle der Anwesenden gewusst habe. Der Vorwurf, auf der Veranstaltung geblieben zu sein, obwohl ein historisch belastetes Lied angestimmt worden war, sei daher nicht als ehrenrührig auszulegen.

Das OLG Wien ergänzt, dass sich die Sache anders verhielte, wäre das Lied am Parteitag angestimmt worden und die Antragsteller hätten diesen nicht verlassen. Auch dies kann man hinterfragen, denn der Loyalitätskonflikt ("Zwickmühle") bestünde bei einem Parteitag (mit eventuellen Abstimmungen, die auf diesem getroffen werden) mindestens genauso, bloß müssten sich Abgeordnete der "rechtsextremen" FPÖ diesen Vorwurf dann wohl umso eher rechtlich gefallen lassen.

Ein Begräbnis nicht zu verlassen, könne sozusagen per se kein ehrenrühriger Vorwurf sein. Hat das OLG Wien deswegen Zuflucht zum spezifischen Charakter eines Begräbnisses genommen, um die Möglichkeit offenzuhalten, dass das bloße Anwesendsein (und umso mehr das Anstimmen und Mitsingen) von "Wenn alle untreu werden" bereits für sich alleine einen Akt der "Wiederbetätigung" darstellen könne? Soll neben der zivilrechtlichen Exkulpation bestimmter Weisen der Berichterstattung vielleicht gar suggeriert werden, nur die Situation des Begräbnisses sichere ein Stück weit Straffreiheit, die auf einem FPÖ-Parteitag nicht gegeben wäre?

Allemal verbleibt mit dem Offenhalten einer strafrechtlichen Bedrohungskulisse großer Raum für das politische Geschäft, jeden, der am Singen dieses Liedes teilnimmt, einschlägig punzieren zu können, auch wenn strafrechtliche Ermittlungsverfahren (wie im gegenständlichen Fall) weiterhin eingestellt werden sollten. Auf diese Weise soll wohl nahegelegt werden, jedwedes Liedgut, ja jedwede Tradition, die vom Nationalsozialismus aufgenommen und in dessen Sinn ideologisch vereinnahmt wurde, kurzerhand aufzugeben.

Schlussendlich wäre auch die genau umgekehrte Schlussfolgerung möglich gewesen: Weil es unhöflich ist, ein Begräbnis vorzeitig zu verlassen, sind umso strengere Maßstäbe anzulegen, jemanden, der ein Begräbnis nicht verlässt, in eine mögliche NS-Nähe zu rücken. Der Schuss könnte sozusagen auch nach hinten losgehen, doch man darf zuversichtlich bleiben, dass die Justiz auch weiterhin kreative Wege finden wird, solchen Lesarten nicht zu folgen.

 

Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph, Lehrer und Buchautor.