
Die Reue. Die Demut. Das Kalkül
Die Gerichtssaalreporter der Zeitungen brauchen bei ihren Reportagen heutzutage mehrere Packungen der teuer gewordenen Papiertaschentücher. Denn auch der hartgesottenste Gewaltverbrecher zeigt nach dreizehn früheren Verurteilungen auf Anraten seines Strafverteidigers neuerdings eine tränenreiche Reue, die selbstverständlich mit der treuherzigen Versicherung verbunden wird, dass er seine Fehler eingesehen habe und künftig, wie es in dem alten Studentenlied vom Kurfürsten Friedrich von der Pfalz heißt, "ein christlich Leben" führen wolle.
Das Strafgesetz kennt verschiedene Milderungsgründe, die vor allem dann vorgebracht werden, wenn die offen liegenden Fakten ein weiteres Leugnen nicht mehr zulassen. Ein Geständnis hat immer schon geholfen – und nach den Erfahrungen der letzten Jahre leistet nunmehr auch eine rührend vorgetragene Beichte gute Dienste, abgelegt nach dem Muster des in der katholischen Kirche einst selbstverständlichen und mittlerweile vergessenen Sakraments der Buße. Man zeigt Reue: "Es tut mir ja so leid, was ich getan habe." Man habe den Irrweg erkannt und sage sich von der bisherigen Lebensweise los, und wer es nicht glaubt, ist kein Gutmensch. Man blicke manchem angeklagten Engelsgesicht ("angelface") in das treuherzige Auge, wenn dessen Mund gesetzeskonform die Wahrheit ins Gegenteil zu verkehren versucht. Es gibt für den Angeklagten keine Wahrheitspflicht.
Selbstredend muss die bekundete Einsicht mit dem ebenso rührend vorgebrachten Vorsatz verbunden werden, nach einem angestrebten milden Urteil die Chance zu einem neuen Leben wahrnehmen zu wollen, worauf im Plädoyer des Strafverteidigers nochmals herzzerreißend hingewiesen wird.
So verkommt das Wort "Reue" gezielt zum zynischen Kalkül.
Im Migrationszeitalter werfen sich ganze Familien in die Bresche. Mütter beschwören die seelische Umkehr des potenziellen Terroristen, den der Clan mit liebenden Mahnungen auf dem Pfad der Tugend begleiten werde. Voraussetzung ist jedoch, dass die drohende Strafe entsprechend milde ausfällt. Das nächste Taschentuch ist gefragt.
Ein solches sollte man auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens parat haben und ist besonders empfindsameren Gemütern beim Konsum der Medieninterviews mit Menschen im Rampenlicht aller Farben und Ebenen zu empfehlen. Man liest, hört und sieht staunend: Derzeit tritt niemand mehr ein neues Amt ohne Demut an, obwohl die bekannten Lebensläufe keineswegs auf ein solches edles Wirken in der Zukunft deuten. Aber nun wetteifern demütige Politiker in ihren Beteuerungen mit ebensolchen Wirtschaftskapitänen und Fußballtrainern und sogar manchen Kirchenmännern.
Was diese Demut in irdischen Dimensionen bedeutet, können wohl nur die wenigsten "Demütigen" definieren. Im Wörterbuch finden sich dazu Begriffe wie Liebe zum Dienen, Selbsterniedrigung, tiefe Bescheidenheit, Unterwürfigkeit, Ergebenheit – mit Ausnahme der Bescheidenheit in Wirklichkeit geradezu widersinnige Definitionen, nämlich die Gegenteile von Demut. Denn auch diese Warnung ist zu lesen: Wer seine Demut zur Schau stellt, ist stolz und nicht demütig. Die Demut besteht dann nur zum Schein, und die Möglichkeit ist hoch anzusetzen, dass die vorgetäuschte Demut viele Defizite verschleiern soll.
Zur wahren Demut gehört ein belastbares Selbstbewusstsein, und dazu zählen weder krankhafte Liebe zum Dienen noch Selbsterniedrigung noch Unterwürfigkeit, sondern die umfassende Bereitschaft, mit seinen Fähigkeiten führend ein großes Ganzes, etwa eine Gemeinschaft oder eine Idee, uneigennützig voranzubringen. Demütig hat man vor der Wahrheit zu sein.
Eine Herrschaft solcher Demütigen müsste zu einem Paradies auf Erden führen. Und diesem steht an sich nichts entgegen außer der Kleinigkeit der politischen und wirtschaftlichen Realität.
Die beschworene Demut entpuppt sich damit als bloßes Kalkül.
Es existiert keine Definition, die mit einer einsichtigen Formulierung beschreibt, was unter dem Wort von der (politischen) Demut wirklich zu verstehen ist.
Wer unfähig und/oder unwillig ist, kann nicht demütig sein. Er ist ungeeignet oder faul.
Erfreuliche Ausnahmen wird es immer wieder geben, darf man zumindest zu hoffen. Aber allzu oft dient die auffällige Betonung von Reue oder Demut als bloßer Rauchvorhang, hinter dem sich weniger hehre Interessen unterschiedlichster Art verbergen.
Am Ende bleibt ein nicht einmal bösartiger Verdacht: Wären die Mächtigen immer demütig gewesen, wären sie nie mächtig geworden.
Die wenigen Lichtgestalten der letzten zwei Jahrtausende finden sich im Heiligen-Kalender.
Willi Sauberer, Schüler Hugo Portischs, war ab 1961 Mitarbeiter von Alfons Gorbach, Josef Klaus und Hermann Withalm und von 1971 bis 1994 Chefredakteur einer kleinen Salzburger Tageszeitung. Der konservative Publizist schreibt vorwiegend über gesellschaftspolitische, zeithistorische und lokal-geschichtliche Themen.