
Unabhängige Gerichtsbarkeit und der "Fall Anna"
Ist die Gerichtsbarkeit wirklich unabhängig? Haben wir eine wirklich unabhängige Rechtsprechung in Österreich? Ist speziell unsere Strafgerichtsbarkeit wirklich unabhängig? Die Strafgerichte sind allerdings davon abhängig, dass Anklage erhoben wird. Es gilt: wo kein Kläger, da kein Richter. Wenn die Staatsanwaltschaft untätig bleibt, gibt es kein Gerichtsverfahren (von Beleidigungen und wenigen ähnlichen Ausnahmefällen abgesehen, wo der Geschädigte ein Klagerecht hat). Ein Volksanklage, die jedermann erheben könnte, gibt es im österreichischen Strafrecht nicht.
Aber darüber hinaus gilt im österreichischen Strafgerichtswesen noch eine weitere Einschränkung. Das Gericht darf eine Tat, einen Sachverhalt, nur im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der Staatsanwaltschaft seiner Entscheidung zugrunde legen. Wenn die unrichtig erfolgt, dann ist das Gericht daran gebunden und dann wird auch das richterliche Urteil fehlerhaft sein. Das Gericht kann also nicht (mehr wie früher) die Tat, den Sachverhalt frei rechtlich beurteilen und dabei andere Rechtsvorschriften anwenden als die von der Staatsanwaltschaft vorgegebenen.
Und das ist jetzt im "Fall Anna" eine Problematik, die noch einer näheren rechtlichen Prüfung bedarf. Und die wird hoffentlich der Oberste Gerichtshof vornehmen, wenn er den Fall jetzt einer Prüfung unterziehen muss.
Diese erwähnte gesetzlich Vorschrift stellt in der praktischen Auswirkung eine bedeutende Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit dar. Und sie ist offensichtlich eine bewusste Maßnahme einer Regierung, die sich mit Hilfe der ihr weisungsmäßig untergeordneten Staatsanwaltschaft Kontrolle über die (Straf-)Gerichtsbarkeit behalten will. In der Praxis sehen wir die Auswirkung: vom Opferschutzrecht (Opfer ist bei vielen Taten die Gesellschaft als Ganzes) zum Täterschutzrecht. Resozialisierung der Täter geht über alles, selbst wenn da die Rechtssicherheit und der Glaube an eine unabhängige Justiz schwer geschädigt wird. Anzeige auf freien Fuß, bedingte Verurteilungen auch bei Gewohnheits- und Wiederholungstätern, auch bei Gewaltdelikten und jetzt Ausweitung der Fußfessel-Regelung. Was hilft es, wenn die Polizei bei der Anzeigenaufnahme pflichtgemäß ihre Arbeit tut, wenn dann die Justiz ihren eigenen Regeln folgt, von oben gesteuert und politisch, ideologisch ausgerichtet?
Die Justiz und Rechtssprechung sollte unabhängig sein und unabhängig agieren können. Und diese Forderung gilt auch für den Justizminister und die vom Justizressort dem Parlament vorzulegenden Gesetzesvorschläge.
Dr. jur. Peter F. Lang, Wien, Ministerialrat i.R. bzw. Gesandter i.R. (pensionierter Beamter des Außenministeriums).