Über ein Fest, das unserer so zerrissenen Gesellschaft gut tut
Weihnachten ist die Zeit im Jahr, an der wir uns alle gerne kollektiv einreden, wir könnten für ein paar Tage außer Kraft setzen, was wir das restliche Jahr über wenig in den Griff bekommen, in Frieden und Eintracht, mit Nähe und Verständnis zu leben. Dass diese Rechnung nicht immer aufgehen kann, ist keine Überraschung, sondern Gewissheit. Überraschend ist höchstens, mit welcher Hartnäckigkeit wir sie jedes Jahr aufs Neue aufstellen.
Denn während draußen Lichterketten blinken und drinnen der Christbaum geschmückt dasteht, prallen Erwartungen aufeinander, die sich oft Monate, manchmal Jahre aufgestaut haben. Weihnachten, das Fest der Liebe, wird so nur allzu oft zum Stresstest für Beziehungen, die ohnehin unter Spannung stehen. Es ist das jährliche Treffen all dessen, was sonst erfolgreich verdrängt wird – ungelöste Konflikte, unausgesprochene Vorwürfe, unterschiedliche Lebensentwürfe. Wer glaubt, festliches Essen und ein paar Kerzen könnten das ausreichend überdecken, verwechselt Dekoration mit Substanz.
Dass laut Umfragen jede vierte Familie über die Feiertage streitet, ist also gar keine wirklich alarmierende Zahl. Die Dunkelziffer dürfte sogar höher liegen, Streit passt schlecht zum Bild, das man gerne vermitteln möchte. Gestritten wird über Nebensächlichkeiten – den Ablauf der Feiertage, das Essen, die Kirche oder die Kinder. Weihnachten will Nähe, wo Distanz vielleicht ehrlicher wäre, und verlangt Harmonie, wo sie längst nicht mehr existiert. Bemerkenswert ist vor allem der moralische Druck, der auf dieses Fest geladen wird. Wer genervt ist, hat Weihnachten »nicht verstanden«. Wer widerspricht, »stört den Frieden«. Wer sich entzieht, gilt als »unsolidarisch«. So wird aus dem angeblich freiwilligen Fest ein Pflichttermin mit emotionaler Anwesenheitskontrolle. Dass unter solchen Bedingungen Konflikte nicht verschwinden, sondern geradezu eskalieren können, ist weniger ein psychologisches Phänomen als ein logisches.
Natürlich fehlen jedes Jahr auch nicht die gut gemeinten Ratschläge, wie Erwartungen zu senken oder vorher alles abzusprechen und vor allem Reizthemen zu meiden. Weihnachten wird so fast zur »Managementaufgabe«. Die Vorstellung, jahrelang eingeübte Muster ließen sich mit ein paar Kommunikationstipps außer Kraft setzen, ist aber nicht mehr bloß rührend, sondern nur noch naiv. Wer das restliche Jahr über nicht lernt, Konflikte auszutragen, wird es ausgerechnet »zwischen den Jahren« – wie die Bundesdeutschen sagen – kaum perfektionieren. Das Problem liegt daher nicht im Streit, sondern in der Erwartung, ein solcher dürfe zu Weihnachten nicht stattfinden. Das Fest soll reparieren, was sonst liegen bleibt. Es soll versöhnen, wo nichts aufgearbeitet wurde, und verbinden, wo längst Entfremdung herrscht. Das ist kein Ausdruck von Nächstenliebe, sondern von Überforderung. Kein Festtag kann leisten, wozu Menschen im Alltag nicht bereit sind. Kein Festtag?
Doch. Weihnachten kann das! Zumindest für mich. Denn all das, was sie bis jetzt hier gelesen haben, ist eine Art Sukkus dessen, wie Weihnachten im Großen und Ganzen medial gesehen, gelesen, rezitiert wird. Und reduziert. Aber Weihnachten ist viel, viel mehr. Etwa hat es die unverzichtbare Funktion, unseren Alltag vehement zu unterbrechen. Arbeitende Menschen bemühen sich, alles »vor dem Fest« fertigzumachen. Weihnachten ist die Demarkationslinie, die das alte vom neuen Jahr trennt, »zwischen den Jahren« also. Weihnachten führt zur Begegnung über Generationen hinweg und zur Erinnerung daran, dass Gemeinschaft, dass Familie deutlich mehr ist als Effizienz.
Ich war schon Ende Vierzig, als mein erstes Kind auf die Welt gekommen ist, trotzdem hab ich mir bis in dieses Alter den (kindlichen) Zauber der Weihnacht erhalten können. Und umso intensiver darf ich und meine Familie es nun seit guten zehn Jahren wieder mit diesem Zauber feiern, weil eben Nachwuchs im Haus ist. Die säkulare Bedeutung dieses Festes erscheint mir dabei gerade in unserer so ungeheuer fragmentierten Gesellschaft als enorm wichtig. Dieses wunderbare Fest ist ein seltener – über alle politischen wie gesellschaftlichen Positionen sowie über alle Glaubensrichtungen hinweg funktionierender – schöner gemeinsamer Bezugspunkt.
Für mich persönlich ist natürlich auch die religiöse Komponente dieses neben Ostern schönsten Fest des Jahres ungeheuer wertvoll. Das Ereignis, wenn bei der Mitternachtsmesse »Stille Nacht« gesungen wird, mit der alles erlösenden letzten Textzeile, lässt mich all das Weltungemach des Jahres ertragen: Christ, der Retter ist da! Frohe Weihnachten uns allen!
Christian Klepej ist Unternehmer und gibt in Graz das Monatsmagazin Fazit heraus. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie in Hirschegg-Pack und Graz.
