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Die Evolution der Kooperation
Karl Sigmund
 

Die Evolution der Kooperation

Der Mathematiker Karl Sigmund untersucht mit Hilfe der Spieltheorie die Entstehung und Entwicklung von kooperativem Verhalten in biologischen Systemen bis hin zu menschlichen Gesellschaften. Er erklärt Formen des Altruismus: direkte Reziprozität (‚Ich kratz’ dir den Rücken, und du kratzt dafür meinen’) und die spezifisch menschliche, indirekte Reziprozität (‚Ich kratz dir den Rücken, damit mir ein anderer meinen Rücken kratzt.’) und erläutert Gründe für deren Entstehen.

Karl Sigmund für den Science-Blog:

Schon Darwin war fasziniert von der Evolution sozialer Verhaltensmuster, und insbesondere von der Entstehung der Kooperation. Die Evolution der Kooperation gehört zu den wichtigsten Problemen des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Vielen wird es aber zunächst sonderbar erscheinen, dass sich hier so ein großes Problem verstecken soll. Denn Kooperieren bringt ja offenkundig Vorteile, wieso sollten sich dann nicht Anlagen für kooperatives Verhalten durchsetzen?

Das Problem ist jedoch, dass Kooperation zwar vorteilhaft ist, aber Ausbeuten noch vorteilhafter. Altruismus ist kostspielig.

Evolutionsbiologen definieren altruistische Handlungen als solche, die die handelnden Person etwas kosten, anderen aber einen Vorteil bringen. Im einfachsten Fall vergleichen wir zwei mögliche Alternativen: (C) dem anderen einen Vorteil b zu vermitteln, was mit eigenen Kosten c verbunden ist, oder (D) das zu unterlassen. C steht für ‚to cooperate’ und D für ‚to defect’. Kosten und Nutzen werden hier in der einzigen Währung gemessen, die in der Evolutionsbiologie zählt, nämlich der sogenannten Fitness, also der durchschnittlichen Zahl an Nachkommen. Wie sollte sich eine Anlage durchsetzen, die Kosten verursacht, also den eigenen reproduktiven Erfolg verringert?

Das Gefangenendilemma – ein Standardmodell für kooperatives Verhalten

Diese Frage kann man mit Hilfe der Spieltheorie verdeutlichen, einem Zweig der Mathematik, der sich mit der Analyse strategischer Wechselwirkungen befasst und der seit den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts eingesetzt wird, um wirtschaftliches Verhalten zu untersuchen. Eines der bekanntesten Modelle hier ist das sogenannte ‚Gefangenendilemma’. Lassen wir uns nicht von dem etwas bizarren Namen ablenken, sondern stellen wir uns vor, dass zwei Personen, die einander nicht kennen, unabhängig voneinander entscheiden müssen, ob sie der anderen Person fünfzehn Euro zukommen lassen wollen oder nicht. Falls sie das wollen, müssen sie dem Spielleiter fünf Euro zahlen. Der Spielleiter überweist dann fünfzehn Euro ans Gegenüber. Die Alternative (C) bedeutet also, dem anderen Spieler etwas zu schenken, und die Alternative (D), das nicht zu tun. Wenn beide Spieler kooperieren, also (C) wählen, dann gewinnt jeder in Summe zehn Euro. Wenn beide Spieler (D) wählen, gewinnen sie nichts. Trotzdem ist es für den einzelnen vorteilhafter, (D) zu wählen, und zwar unabhängig davon, ob der andere sich für (C) oder (D) entscheidet. In jedem Fall erspart man sich die Überweisung von fünf Euro an den Spielleiter. In einem Fall erhält man fünfzehn Euro ohne Gegenleistung, man beutet also den Mitspieler aus. Im anderen Fall bekommt man zwar nichts, aber das ist immer noch besser, als selbst ausgebeutet zu werden, d.h. fünf Euro zu zahlen, ohne dafür etwas retour zu erhalten.

Dieses Gefangenendilemma ist das einfachste Beispiel eines sozialen Dilemmas, also einer Situation, wo der Eigennutz selbstzerstörerisch wirkt. In solchen Situationen gelingt es der ‚unsichtbaren Hand’ ökonomischer Kräfte nicht, aus den Interessen der einzelnen Individuen ein gemeinnütziges Gesamtergebnis zu erzielen. Wenn es schon dem rationalen Kalkül nicht gelingt, in solchen Fällen die Kooperation durchzusetzen, wie schwer ist es dann erst in einem darwinistischen Wettbewerb um reproduktiven Erfolg, in einem vom blinden Zufall getriebenen Suchprozess?

Evolutionsbiologische Modelle für kooperatives Verhalten: Verwandtenselektion und reziproker Altruismus

Es gibt zahlreiche evolutionsbiologische Zugänge zur Lösung dieser Frage. Hier sollen bloß die beiden bekanntesten vorgestellt werden, die unter den Schlagworten ‚Verwandten-selektion’ und ‚reziproker Altruismus’ die einschlägige Literatur dominieren.

Die Theorie der Verwandtenselektion geht im wesentlichen auf die Arbeiten von William D. Hamilton aus den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zurück. Es gab allerdings schon wichtige Vorläufer. Einer der Väter der Populationsgenetik, der Statistiker R.A. Fisher, erklärte auf diese Weise bereits in den Zwanzigerjahren die auffällige Zeichnung gewisser ungenießbarer Raupen. Jeder Vogel, der so eine Raupe frisst, wird augenblicklich von heftiger Übelkeit heimgesucht und vermeidet fortan solche Nahrung. Die auffällige Zeichnung signalisiert also: ‚Wer mich schluckt, dem wird schlecht’. Das kommt freilich zu spät für die Raupe, die gefressen worden ist. Doch die Raupen dieser Art kriechen gewöhnlich im engen Familienverband herum, in Ketten von zehn oder mehr Individuen. Die Geschwister überleben, und tragen die Anlagen, die für die auffällige Zeichnung und den üblen Geschmack sorgen, in die folgende Generation. Auch JBS Haldane (ein weiterer Vater der Populationsgenetik) unterstrich diesen Gesichtspunkt, als er scherzhaft bemerkte, dass er jederzeit bereit wäre, sein Leben zu opfern, um zwei Brüder oder acht Vettern zu retten. Dahinter steckt eine Theorie.

Diese Theorie beruht auf dem Begriff des Verwandtschaftsgrads. Der Grad der Verwandtschaft zwischen zwei Individuen wird definiert als die Wahrscheinlichkeit, dass ein (in der Bevölkerung seltenes) Gen, welches in einem Individuum vorkommt, sich auch im anderen befindet. Der Verwandtschaftsgrad zwischen mir und meiner Mutter (oder meinem Vater) ist ½, der zwischen mir und meinem Bruder ebenso, denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir beide dieses Gen vom Vater (oder von der Mutter) geerbt haben, ist jeweils ¼. Zwischen mir und meinen Vettern ist der Verwandtschaftsgrad 1/8 usw. Vom genetischen Standpunkt aus sind also meine Verwandten einfach verwässerte Kopien meiner selbst (und zwar je nach Verwandtschaftsgrad mehr oder weniger verwässert), und dementsprechend stimmen die genetischen Interessen mehr oder weniger überein – ein reproduktiver Vorteil für meine Verwandten ist somit auch, auf diese indirekte Art, ein reproduktiver Vorteil für mich selbst, nur eben diskontiert um den Verwandtschaftsgrad.

Wenn daher zwei Verwandte das Gefangenendilemma spielen, so ändert sich die Auszahlung. Zu meiner eigenen Auszahlung kommt noch die Auszahlung meines Partners dazu, diskontiert um den Verwandtschaftsgrad r. Und nun sieht man leicht, dass (C) jetzt die bessere Alternative bietet, egal was mein Partner macht, sofern nur der Verwandtschaftsgrad größer ist als das Verhältnis von Kosten zu Nutzen, also r > c/b gilt.

Letztere Regel wird als Hamiltons Gesetz bezeichnet. Es ist die Grundlage der Theorie der Verwandtenselektion. Diese ist inzwischen mächtig ausgebaut worden. Insbesondere ist auch die Definition des Verwandtschaftsgrads ersetzt worden durch einen ähnlichen Begriff, der misst, wie sehr die Tatsache, dass ich die Anlage zur Kooperation habe, die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass mein Gegenüber diese Anlage auch hat.

Verwandtenselektion im Tierreich

Die Verwandtenselektion ist in zahlreichen verhaltensbiologischen Beispielen untersucht worden. Die größten Erfolge liefern die Anwendungen auf soziale Insekten. Bekanntlich ist das kooperative Verhalten in einem Ameisenhaufen oder einem Bienenstock ganz besonders hoch, und geht oft bis zur Selbstaufopferung. Bienen können sich wie Kamikaze auf Eindringlinge stürzen: ihr Stich rettet den Bienenstock, und kostet sie selbst das Leben. Erklärt werden kann das durch die besonders engen Verwandtschaftsverhältnisse in solchen Gesellschaften. Typischerweise stammen alle Arbeiterinnen von einer Königin, die sich in vielen Fällen auch noch mit einem nahen Verwandten gepaart hat. Die Genome der Arbeiterinnen sind einander beinahe so ähnlich wie die Genome in unseren Körperzellen, und man ist geneigt, von einem ‚Superorganismus’ zu sprechen.

Darwin schrieb in den ‚Origins’: ‚Eine besondere Schwierigkeit schien mir zunächst unüberwindlich, und geradezu fatal für meine ganze Theorie. Ich spiele hier auf die sterilen Weibchen in den Insektengesellschaften an, die sich sowohl von den Männchen als auch von den fruchtbaren Weibchen stark unterscheiden und die doch, da sie steril sind, ihresgleichen nicht fortpflanzen können.’

Darwin kannte, so wie alle seiner Zeitgenossen, die Mendelsche Vererbungslehre nicht, die sein Problem gelöst hätte. Doch Darwin kam der Lösung denkbar nahe, als er schrieb: ‚Die natürliche Auslese kann auf die Familie ebenso gut angewandt werden wie auf das Individuum.’ Und Darwin erläuterte seine Auffassung mit Beispielen: ‚Ein wohl schmeckendes Gemüse wird gekocht, doch der Gärtner sät Samen derselben Sorte und erwartet vertrauensvoll, beinahe dieselbe Varietät zu erhalten… Ein Tier wird geschlachtet, doch der Bauer greift mit Zuversicht nach derselben Familie…’

Kooperatives Verhalten in menschlichen Gesellschaften – reziproker Altruismus

Auch wir Menschen sind soziale Tiere: schon Aristoteles hatte uns, gemeinsam mit den Ameisen und den Bienen, als solche bezeichnet, und dieser Gedanke wurde immer wieder aufgegriffen, so etwa in der dreihundert Jahre alten ‚Fabel von den Bienen’ von Bernard de Mandeville. Heute wissen wir freilich, dass es in menschlichen Gesellschaften zwar ähnlich kooperativ zugeht wie bei den Ameisen und Bienen, aber die durchschnittliche Verwandtschaft eine viel geringere ist. Neben dem Nepotismus, der in menschlichen Gesellschaften zweifellos eine bedeutende Rolle spielt, muss es daher noch weitere Faktoren geben, die imstande sind, die häufige Zusammenarbeit zwischen nicht-verwandten Individuen zu erklären.

Hier können also die indirekten Fitnesseffekte keine Rolle spielen. Es müssen demgemäß direkte Vorteile aus altruistischem Verhalten zu erwarten sein. Schon im achtzehnten Jahrhundert schrieb der Ökonom Adam Smith von ‚unserer Neigung, zu handeln, zu tauschen und zu feilschen’, und dies führt zum zweiten Lösungsansatz, um Kooperation zu erklären, nämlich der Theorie des reziproken Altruismus. Sie wird in erster Linie auf eine Arbeit von Robert Trivers aus dem Jahr 1971 zurückgeführt. Aber auch die Theorie vom reziproken Altruismus war von Darwin antizipiert worden, als er in der ‚Abstammung des Menschen’ schrieb: ‚Die geringe Kraft und Schnelligkeit des Menschen, sein Mangel an natürlichen Waffen etc werden mehr als wett gemacht durch seine sozialen Eigenschaften, die ihn dazu führen, Hilfe zu geben und zu nehmen.’

Dieses Geben und Nehmen steckt hinter dem reziproken Altruismus, den Robert Trivers definierte als ‚den Austausch altruistischer Handlungen, in denen der Nutzen die Kosten überwiegt, so dass über längere Zeit hin beide Teile in den Genuss eines Nettogewinns kommen.’

Der Aspekt der Wechselwirkung ‚über längere Zeit hin’ lässt sich am besten mit dem sogenannten wiederholten Gefangenendilemma modellieren. Hier nimmt man an, dass es mehrere Runden des Gefangenendilemmas gibt. Nach jeder Runde kommt es mit der Wahrscheinlichkeit w zu einer weiteren Runde. (Wir können uns beispielsweise vorstellen, dass die Wechselwirkung nur abgebrochen wird, wenn eine Sechs gewürfelt wird.) Dann ist die Zahl der Runden eine Zufallsgröße, deren Mittelwert M gerade der Kehrwert von 1-w ist (also im Mittel sechs Runden, falls gewürfelt wird.) Beim wiederholten Gefangenendilemma gibt es zahllose Strategien, wir betrachten zunächst nur zwei besonders einfache: (a) AllD, die Strategie, die niemals kooperiert, und (b) TitForTat, die Strategie, welche vorschreibt, in der ersten Runde zu kooperieren und fortan jenen Zug zu wählen, den der Gegenspieler in der Vorrunde verwendet hat. Zwei AllD-Spieler bekommen beide nichts, während zwei TitForTat Spieler in jeder Runde b-c erhalten. Ein TitForTat-Spieler, der auf einen AllD Spieler trifft, wird von diesem in der ersten Runde ausgebeutet, aber das gelingt in den weiteren Runden nicht mehr – der AllD-Spieler verzichtet also um des kurzfristigen Vorteils der Anfangsrunde willen auf die Aussicht auf (vielleicht viele) Runden künftiger wechselseitiger Unterstützung.

Wenn die Wahrscheinlichkeit w einer weiteren Runde größer als das Kosten-Nutzen Verhältnis c/b ist, ist es demnach besser, einem TitForTat –Spieler mit TitForTat zu begegnen. Gegen einen AllD-Spieler ist freilich AllD die etwas bessere Strategie. Beim wiederholten Gefangenendilemma kommt es also darauf an, dieselbe Strategie wie der Gegenspieler zu wählen. Anders ausgedrückt, bilden sich hier so etwas wie gesellschaftlichen Normen. Es ist günstig, sich so zu verhalten wie die anderen Mitglieder der Gesellschaft.

An dieser Stelle ist es angebracht, festzuhalten, dass es natürlich absurd wäre, anzunehmen, dass ein Programm, TitForTat oder AllD zu spielen, in unseren Genen kodiert ist. Ein Grossteil unserer sozialen Verhaltensweisen ist erlernt. Das kann auf vielerlei Weisen geschehen. Am einfachsten ist es wohl, jene Verhaltensweisen zu kopieren, die besonders erfolgreich scheinen. Wenn man derlei Imitationsprozesse spieltheoretisch modelliert, kommt man aber wieder zu spieltheoretischen Gleichungen von ganz ähnlicher Gestalt, wie bei der genetischen Übertragung. Es kommt lediglich darauf an, dass vorteilhafte Verhaltensweisen in der Bevölkerung häufiger werden (wobei freilich zu beachten ist, dass der Vorteil häufigkeitsabhängig sein kann, ja dass unter Umständen eine Strategie gerade dadurch nachteilig werden kann, weil sie zu häufig vorkommt).

Viele Menschen helfen anderen aber auch dann, wenn eine Gegenleistung eher unwahrscheinlich ist. Der gute Samariter liefert hier wohl das bekannteste Beispiel. Es ist unwahrscheinlich, dass er je wieder auf den Fremden stößt, dem er seine Hilfe angedeihen ließ. Denkbar wäre es freilich, dass hier doch eine Gegenleistung erfolgt, nur eben nicht durch den Empfänger der Hilfe, sondern durch Dritte. Das führt zum Begriff der indirekten Reziprozität.

Direkte und indirekte Reziprozität im sozialen Verhalten

Bei der direkten Reziprozität geht es nach dem Prinzip: ‚Ich kratz dir den Rücken, und du kratzt dafür meinen’. Bei der indirekten Reziprozität hingegen: ‚Ich kratz dir den Rücken, damit mir ein anderer meinen Rücken kratzt.’ Warum sollte der andere das tun? Nun, vielleicht damit ihm seinerseits wieder jemand hilft.
Bei der direkten Reziprozität treffe ich meine Entscheidung auf Grund der Erfahrungen, die ich mit meinem Mitspieler gemacht habe. Bei der indirekten Reziprozität verwende ich auch die Erfahrungen anderer. Der Biologe Richard Alexander hat es in seinem Buch ‚The biological basis of moral systems’ so formuliert: ‚Indirekte Reziprozität beruht auf Reputation und Status, und führt dazu, dass die Mitglieder der Gruppe stets bewertet und neu bewertet werden.’

In einem rudimentären spieltheoretischen Modell lässt sich das folgendermaßen darstellen. Jeder Spieler hat eine Reputation, die der Einfachheit halber nur G (wie Gut) oder B (wie Böse) sein soll. Wir verwenden also eine binäres Bewertungssystem: eine Welt in schwarz und weiß, ohne alle Grautöne. Die Individuen treffen zufällig aufeinander, und der Zufall entscheidet auch, wer der potentielle Geber und wer der Empfänger der Hilfeleistung ist. Der ‚Geber’ kann nun einen Nutzen b an den anderen überweisen, was ihn selbst wiederum c kostet. Liefert der Geber tatsächlich eine Hilfeleistung, so ist seine Reputation in den Augen aller anderen G. Verweigert er aber die Hilfe, so ist seine Reputation B. Der TitForTat-Strategie von vorhin entspricht jetzt die sogenannte Scoring-Strategie, die vorschreibt, nur jenen Spielern Hilfe zu geben, die eine gute Reputation G haben. Dadurch wird die Hilfeleistung auf die Guten konzentriert, und kann nicht von den Bösen ausgebeutet werden.

Hier taucht freilich sofort ein Paradox auf. Wieso sollte man B-Spielern die Hilfe verweigern? Hierdurch wird man ja selbst in den Augen der anderen zu einem Bösen, und die Wahrscheinlichkeit, selbst Hilfe zu empfangen, wird somit verringert. In anderen Worten, es kommt einen teuer, zwischen B- und G-Spielern zu diskriminieren. Vernünftigerweise sollte man also unterscheiden zwischen gerechtfertigter und ungerechtfertigter Verweigerung von Hilfe. Einer, der sich immer weigert, anderen zu helfen, verdient seinen bösen Ruf. Einer, der einem Bösen die Hilfe verweigert und dadurch einen Ausbeuter straft, sollte nicht in denselben Topf geworfen werden.

Die Beurteilung, wer gut und böse ist, führt zu einem rudimentären Moralsystem. Davon gibt es allerdings viele, und es ist nicht klar, welches sich wann durchsetzen wird. Aber alle Moralsystem funktionieren nur, wenn die Information über den anderen in ausreichendem Maß vorhanden ist: das kann durch Sprechen, oder genauer durch Tratschen, erreicht werden. Insbesondere sind die modernen Mechanismen für online-trading, wie etwa eBay, auf einfachen Reputationssystemen aufgebaut.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass direkte und indirekte Reziprozität Schlüssel zum Verständnis pro-sozialen Verhaltens beim Menschen sind, und dass es insbesondere die indirekte Reziprozität ist, die als spezifisch menschlich gelten kann und die den Selektionsdruck für soziale Intelligenz, Sprache und Moral liefert.
Vielen wird spätestens jetzt Zweifel aufkommen, ob denn hier nicht die Grenzen der Naturwissenschaft überschritten werden? Moralische Werte können ja nicht, wie empirische Fakten und wissenschaftliche Theorien, überprüft und falsifiziert werden. Ist also die Moral nicht eigentlich ein Tabu-Thema für die Wissenschaft?

Hier ein diesbezügliches Zitat: ‚Evolutionstheorien, die den Geist auffassen als aus den Kräften der lebendigen Materie entstanden, sind unvereinbar mit der Wahrheit über den Menschen.’ Von der etwas pompösen Sprache abgesehen, ist das eine Meinung, die bei vielen Geisteswissenschaftlern Zustimmung finden könnte. Das Zitat stammt auch keineswegs von einem amerikanischen Kreationisten, sondern von einem europäischen Intellektuellen, nämlich Papst Johannes Paul II, der diese ‚Botschaft an die päpstliche Akademie der Wissenschaften’ im hoch angesehen Quarterly Review of Biology veröffentlichte.

Der Papst stellt sich keineswegs gegen die Evolutionstheorie, er spricht sich nur dagegen aus, sie auch auf die sogenannten höheren Fähigkeiten des Menschen anzuwenden. Er ist in diesem Sinne Exzeptionalist. Viele hoch gebildete Menschen würden ihm darin zustimmen. Sogar Alfred Russell Wallace, der Darwin beinahe den Rang des Entdeckers der Evolutionstheorie hätte streitig machen können, war Exzeptionalist. Er schrieb: ‚Die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen müssen einen anderen Ursprung haben […] im unsichtbaren Universum des Geistes.’

Darwin kannte solcherlei Berührungsängste nicht. In seinem Nachlass finden sich Aufzeichnungen, die aus 1837 stammen (er war damals noch keine dreißig), und die später von ihm geordnet wurden unter der Rubrik: ’Alte und nutzlose Notizen über moralische Anlagen’. Später schrieb er: ‚Die moralischen Instinkte sind in den sozialen Instinkten begründet, wobei hier auch die Familienbande mitzählen.’

Zur Reziprozität schrieb Darwin: ‚Die Hoffnung, Gutes zurück zu bekommen, führt uns dazu, andern mit Freundlichkeit und Sympathie zu begegnen:’ Und über Reputation: ‘Das Motiv der Menschen, Hilfe zu leisten, beruht nicht mehr nur auf einem blinden instinktiven Impuls, sondern wird weitgehend beeinflusst vom Lob und Tadel der Mitmenschen.’

Ja, Darwin wird sogar zum Lamarckisten, wenn er schreibt: ‚Es ist nicht unwahrscheinlich, das tugendhafte Tendenzen durch langen Gebrauch vererbbar werden.’ Das erscheint uns heute im Gegenteil äußerst unwahrscheinlich, aber auch dieser Gedanke Darwins enthält einen wahren Kern, wenn wir die Theorie der genetisch-kulturellen Ko-Evolution heranziehen. So ist beispielsweise die Viehzucht bestimmt nicht in unserem Genom verankert, sondern eine kulturelle Errungenschaft. Aber in jenen Bevölkerungen, die über Jahrtausende hinweg Rinderzucht betrieben, breiteten sich genetische Anlagen aus, die es erlauben, auch nach der Kindheit noch Milchprodukte zu verdauen. In anderen Bevölkerungen, etwa in Japan, sind diese Gene dagegen sehr selten. Ähnlich lässt es sich vorstellen, dass eine Kultur der Kooperation bei Jägern und Sammlern oder Dorfbewohnern, über Jahrtausende hinweg, Bedingungen geschaffen hat, die zur Ausbreitung genetischer Anlagen führten, die in Darwins Sinn als ‚tugendhaft’ bezeichnet werden können.


Anmerkungen der Redaktion

Weiterführende Links

Sehr amüsant aufbereitet und nicht minder anschaulich und informativ, führt der Informatiker DI Heinrich Moser  (Postdoc TU Wien, Institut für technische Informatik) in einem Bühnenvortrag beim "Science Slam Vienna" vor, was die durchaus ernsthaften Hintergründe der Spieltheorie sind:

"Eisverkäufer, Politiker und Spiele in der Informatik"

Der Autor

Karl Sigmund wird hier etwas näher vorgestellt.